Weißes Rauschen oder Die sieben Tage von Bardorf. Uli Wittstock. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Uli Wittstock
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Зарубежные детективы
Год издания: 0
isbn: 9783954627929
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Punkte und Kreise. Manchmal war das anders. Auch kein Pfeifen in den Ohren. Nicht der leiseste Nachhall. Die Zunge im Mund konnte er bewegen. Sie glitt nicht über stumpfe Zähne. Dann machte er eine Pause. Er musste nachdenken. Allerdings hatte er kein Thema. Auch keine Idee. Das war das Problem. Solche Gedanken waren verboten. Dann lieber starr liegen. Im Nichts. Im grauen Nichts. Irgendetwas stimmte aber nicht. Grau. Er wollte darüber jetzt nicht nachdenken. Grau. Es war irgendwie anders.

      War er noch einmal weggedämmert? Er wusste es nicht. Das Grau war noch immer starr. Vielleicht sollte er jetzt den Kopf drehen. Er fühlte sich bereit dazu. Das Grau endete an einem Fensterrahmen. Er war enttäuscht. Dann sollte er es jetzt mit seiner Hand versuchen. Möglicherweise gab es da Überraschungen. Er wartete noch. Spürte er eine Spannung? Auf was konnte er hoffen? Ihm fiel nichts ein. Also blickte er wieder zum Grau. Er hatte es heller in Erinnerung. Vielleicht ging schon die Sonne unter? Blieb ihm keine Zeit mehr? Er musste handeln. Eine Hand, vielleicht die Rechte, kratzte auf Stoff. Die anderen Finger griffen nach etwas, das sich anfühlte wie Leder. Das fand er verheißungsvoll. Ein Fuß drehte ins Leere, der andere lag wohl unter einer Decke. Wenn er mehr wissen wollte, musste er seinen Kopf wohl noch weiter drehen. Der Fensterrahmen endete an einer weißen Wand, die zu einem Regal hinüber leitete. Tropenholz, das als Raumteiler sich weiter in die Tiefe zog. Er drehte den Kopf in die andere Richtung. Ein dünnes Laken, benutzt, aber nicht zerwühlt, das Kopfkissen glatt gestrichen. Er war allein. Er setzte sich aufrecht. Kein Schwindelgefühl. Er schlug die Decke zurück. Keine Stäube, Tabletten, Flecken, Krümel oder Kristalle, kein Blut, keine Tränen. Es war zehn vor zehn und er war zu früh wach geworden. Das beunruhigte ihn. Er stöpselte sich von seinen Schlafsensoren aus. Der Kabelstrang endete über seiner Schulter. Von dort führten dünnere Drähte zu den Messpunkten unter einer Gummimanschette, die wie ein Schweißband seinen Kopf umspannte. Mit einem Piepton bestätigte der Rechner den Eingang der Daten. Er setzte sich auf die Bettkante, dann wechselte er hinüber zum Arbeitstisch und rief die Schlafdateien der letzten sechs Wochen auf. Das beunruhigende Gefühl blieb. Die letzte Nacht war seit Beginn der Messungen die mit der kürzesten Tiefschlafphase. Das Grau war übrigens tatsächlich das Grau des Himmels. Die Stirnseite des Appartements war verglast, sodass er auf die Stadt herabschauen konnte. Von Zeit zu Zeit hätte er die Gebäude gerne im Dunst gesehen, doch es fehlte ein Meer oder wenigstens ein Fluss, aus dessen Niederungen der Wind Nebelschwaden in die Straßen hätten treiben können. Zudem wurde in der Stadt nicht so hoch gebaut, sodass es selbst im Dachgeschoss schwer war, einen hinreichenden Abstand zum Bordstein zu halten. Dennoch war er geblieben. Seine Laune hellte sich etwas auf, als der Bildschirm sein aktuelles Gewicht anzeigte, einhundertdreißig Gramm weniger als am Abend zuvor. Damit hätte er fast seinen Idealwert wieder erreicht.

      Diesem jagte er bereits seit mehreren Tagen hinterher. Die Ursache vermutete er in einem Abendessen der letzten Woche, eigentlich einem Arbeitsessen mit seinen beiden Programmierern, flinke aber übergewichtige junge Burschen, und obwohl er den Teller fast unberührt zurückgegeben hatte, waren doch ausreichend Fettmoleküle an ihm hängen geblieben, sodass er beschlossen hatte, Übergewichtigen nun nicht mehr die Hand zu geben.

      Während er noch auf der Waage stand, ließ er die übrigen Werte durchlaufen. Körpertemperatur und Ruhepuls lagen im optimalen Bereich, der Blutdruck zeigte nur eine geringe Abweichung. Dann stach er sich in den Finger, setzte einen Tropfen Blut auf den Teststreifen und schob ihn in das Messgerät. Der Blutzucker war deutlich zu niedrig. Dies erklärte wohl auch die schwierige Aufwachphase und die Probleme mit dem Tiefschlaf. Er würde den Medidoc fragen müssen. Zum Schluss pustete er seine Atemluft in den Analysestutzen. Lungenvolumen sehr gut, keine Spuren von Alkohol und kein Hinweis auf eine Infektion im Halsbereich. Kein Grund also, seine Morgenroutine zu unterbrechen.

      Die hatte er vor Wochen umgestellt, nachdem sich die Probleme mit dem Blutfett zugespitzt hatten. Sein Medidoc, ein Experte, der von allen seinen Experten der geheimste war, hatte für ihn eine Folgemilchtherapie entwickelt, in Anlehnung an russische Volksmärchen. Der Medidoc war vor Jahren aus irgendeiner sibirischen Landschaft zugewandert und behauptete noch immer, dass der Morgen klüger als der Abend sei und Recken bis zur Geschlechtsreife von einer Amme gesäugt werden müssten. Ammen seien out, hatte dann allerdings das Team einstimmig beschlossen. Folgemilch tue es auch, beschied daraufhin der Medidoc.

      Seit mehreren Wochen ließ er also jeden Morgen Trockenmilch in ein Glas rieseln und goss dann entwurzeltes Wasser nach, das ihm ebenfalls der Medidoc lieferte, ein Wasser, dem in einem aufwendigen Verfahren die räumliche Erinnerung genommen worden war. Bei der Herstellung spielten wohl Mondphasen, Erdmagnetismus und Kristallsiebe eine Rolle sowie ein Parcours aus Steinen, Torf, Kaffeefiltern und einer Klangschale, durch welchen das Wasser wie ein Katarakt stürzte, bis es seine Herkunft vollständig vergessen hatte. So könnten im Körper keine störenden Spannungen aufgebaut werden, hatte der Medidoc erklärt.

      Er schüttelte das Gemisch auf und sah zu, wie die kleinen Blasen sich am Rand des Glases sammelten und dann allmählich platzten. Der Rechner meldete sich wieder, diesmal mit den ersten nervösen Takten aus John Zorns Recordatio, ein sicheres Zeichen, dass es einen aktuellen Statusbericht aus dem Netz gab. Er weckte den Bildschirm auf und nahm den Folgemilchshake mit hinüber zum Arbeitsplatz, der sich ein wenig versteckt hinter dem Raumteiler über zwei Tische erstreckte, vor allem wegen der beiden großen Bildschirme, auf denen jetzt Zahlen, Diagramme und kurze Einschätzungen seines Moneydocs aufliefen. Die größte Grafik zeigte die Entwicklung der Downloads seit der Veröffentlichung seiner aktuellen Single-Auskopplung, eine tagesaktuelle Auswertung, die es dem Team ermöglichte, das Marketing zielgenau einzusetzen. Die Kurve war in den ersten Tagen steil angestiegen und war nun allerdings merklich abgeflacht. Er trank ein paar Schlucke Folgemilch und wie immer nach diesem täglichen Erstkontakt sendete sein Magen merkwürdige Signale an das Hirn, das daraufhin mit einem leichten Schwindel reagierte. Er schloss die Augen. In diesen Momenten würde er gerne an einen Gott glauben, an einen personifizierten Sinn oder wenigstens an eine Frohe Botschaft, mit der er den Tag begrüßen könnte, die Stunden segnen, die vor ihm lagen, weiße Zeitabschnitte, deren Rhythmus er noch zu entdecken hatte.

      „Der Zuckerspiegel ist zu niedrig.“

      Der Medidoc liebte es, ohne Vorwarnung im internen Netz wie ein Geist zu erscheinen. Er hatte sich vertraglich alle Freiheiten einräumen lassen, um körperlichen Schaden von seinem Auftraggeber abzuwenden.

      „Nimm zwei Stück aus der grünen Schachtel. Eine Art Traubenzucker.“

      Der Medidoc wirkte ein wenig bekümmert in dem kleinen Videofenster über der Download-Kurve.

      „Und lass heute Abend nicht wieder das Essen aus, Kilian.“

      Den Namen nutzte der Medidoc nur, wenn er seinen Worten einen gewissen Nachdruck verleihen wollte.

      Kilian nickte und trank den Rest der Folgemilch aus dem Glas.

      „Wir sehen uns nachher“, sagte er und schaltete den Bildschirm ab. Dann ging er auf die andere Seite des Raumteilers, dorthin, wo sein Bett stand, und hinter einem großen Vorhang das Farb-, Sound- und Drogenlager verborgen war.

      Die Dachwohnung hatte für ihn den Vorteil, den ganzen Tag nackt umhergehen zu können. Er wählte heute ein dünnes Papier, das mit seiner schimmernden Oberfläche fast an Seidenpapier erinnerte. Er breitete den Bogen auf dem Parkett aus, stellte sich davor und versuchte sich zu konzentrieren. Der Tag hatte noch keinen Farbton. Das Grau aus seiner Aufwachphase führte nicht hinüber zum Tagesrand, für Kilian einen Art Datumsgrenze, denn erst nach Sonnenuntergang wurde er wirklich produktiv. Ein helles Grün als Kontrast zum Grau schien ihm durchaus angemessen.

      Er mischte sich ein leichtes Grün auf der Palette und zog dann mit einem mittelstarken Pinsel eine Linie zwischen seinen beiden Hoden. Die Berührung ließ seinen Hodensack zusammenschrumpfen. Mit einem breiteren Pinsel spritze er ein dunkles Gelb, fast schon Ocker darüber. Die Vorhaut sprenkelte er dunkelrot und entschloss sich dann, für den Schaft seines Penis ebenfalls Grün zu verwenden.

      Er merkte, dass seine Erektion an Kontur gewann und ließ sich dann vornüber mit gespreizten Beinen auf das Blatt fallen, bewegte sein Becken, sodass die Farbe in das Papier hineinmassiert wurde. Er blieb mit gespreizten Armen und Beinen über der Stadt liegen. Sechzehn Stockwerke unter ihm bohrte sich ein armdicker