Magdalenes Geheimnis. Christina Auerswald. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christina Auerswald
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Зарубежные детективы
Год издания: 0
isbn: 9783954626588
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der ständig daran hing, ins Schaukeln geriet. Das Lächeln brachte dem Mädchen eine Kopfnuss ein, während es an der Tante vorüberschlüpfte.

      Im Hof schöpfte Magdalene frisches Wasser in den Eimer. »Du wirst niemals eine brave Ehefrau«, äffte sie ihre Tante nach und verdrehte die Augen. Sie seufzte und wandte sich erneut der Arbeit zu.

      Wie schon den halben Nachmittag glitt der löchrige Haderlumpen gleichmäßig über den Steinboden. Es war ein polierter Boden aus schwarzen und weißen Platten. Der Onkel hatte ihn erst vor zwei Jahren legen lassen. Magdalene wusste, dass er damit vor den Besuchern protzen wollte. Die Steinplatten lagen im Muster wie ein Schachbrett, das sah tatsächlich edel aus. Magdalene lag auf den Knien und biss die Zähne zusammen. Sie hatte die Ärmel aufgekrempelt und den Rocksaum in den Bund gesteckt, damit ihr Kleid nicht nass wurde.

      Die Tante gab ihr Kontrollamt auf und stieg mit festem Schritt nach oben. Das Mädchen atmete durch und richtete sich auf. Kein Mensch würde sehen, ob sie jetzt noch länger über die Steine fuhr. Magdalene wrang den Hader aus, bis der mürbe Stoff riss. Wie den vorigen, trug sie auch diesen Eimer zur Haustür und schüttete das Wasser in hohem Bogen auf die Straße.

      Sybille war nicht mehr zu entdecken.

      Vor der Tür streckte sich Magdalene und krempelte die Ärmel herunter. Nachdenklich lehnte sie sich an die Hauswand. Die letzten abendlichen Sonnenstrahlen ruhten auf dem Gesicht der Siebzehnjährigen. Sie seufzte und wandte sich zurück zur Haustür.

      Es war Zeit für das Abendessen. Die Familie aß erst in der Abenddämmerung und die hatte heute, gemessen am Hunger, viel zu lange auf sich warten lassen. Magdalene und die alte Magd Anna trugen das Essen über die breite Treppe mit dem gedrechselten Geländer hinauf in den ersten Stock. Gegessen wurde oben in der guten Stube. Unten, neben dem Eingang, lag zur Linken die Küche, zur Rechten die Bibliothek von Magdalenes Onkel Conrad. Er arbeitete in diesem Raum, da kamen die Besucher hin. Das Geschäft musste vorn am Eingang seinen Platz haben. Deshalb schleppten die Frauen, was es an Essen gab, jeden Tag hinauf in den ersten Stock.

      Magdalene hielt die heiße Schüssel mit der nach Thymian duftenden Wurstsuppe in beiden Händen. Anna hinter ihr trug das runde Brot auf einem Brett und das breite Messer. Conrad Bertram trug kein Messer am Gürtel, wie es noch sein Vater und sein Großvater getan hatten. Das sei primitiv, sagte er. Wenn er eins brauchte, ließ er sich eins bringen.

      Die Familie Bertram wartete. Conrad Bertram thronte auf seinem gewohnten Platz an der Stirnseite des schweren eichenen Tisches. Neben ihm, zu seiner Rechten, saß seine Frau. Ihre drei Kinder verharrten still und diszipliniert, wie sich das für die Erben einer wichtigen Familie gehörte, der zehnjährige Friedrich, flachsblonder hoffnungsvoller Sohn und Träger der Bertramschen Tradition, zur Linken des Vaters, Elisabeth, vierzehn, und Katharina, sieben Jahre alt, am Ende des Tisches links und rechts von Magdalene. Die Kinder einschließlich Magdalenes wurden während der Mahlzeiten alle gleich behandelt. Sie erhielten alle gleich viel zu essen, wurden gleichermaßen für Störungen bestraft.

      Alle waren hier, die ganze Familie.

      Nur Hans nicht.

      Das Zeitmaß eines Essens bestimmte sich nach Conrad Bertrams Einsatz. Er war der Taktgeber in der Musik der Mahlzeiten. Sie begann, wenn er das Messer hob und das Brot schnitt. Anderswo schnitt sich jeder selbst sein Brot. Hier war es dem Hausherrn wichtig, seine Autorität im Kleinen zu beweisen; er allein schnitt das duftende Backwerk. Er hielt das Messer in seiner Linken und teilte das Brot nach einem bestimmten Maß zu. Er säbelte sich zwei große Scheiben von dem scharf gebackenen, krustigen Laib, die zweite erst, wenn die erste aufgegessen war, als würde er genießen, dass alle am Tisch ihm beim Abschneiden mit großen Augen zusahen. Das Brot wurde direkt in der Bertramschen Küche gebacken, es war schwer und dunkel und fest, damit es schön sättigte. Tante Dorotheas Scheibe war ebenso dick wie die ihres Mannes, die nächste erhielt der Sohn. Die drei Mädchen bekamen ein mageres Brotstück, durch das man hindurchsehen konnte.

      Seit vier Wochen saß Magdalene wieder jeden Tag hier. Seit dem 9. Mai hatte sie jeden Tag zu essen, ein warmes Bett und ein dichtes Dach über dem Kopf. Sie tat vom folgenden Tag an wie früher ihre Pflicht in diesem Haus, nachdem sie für ihr Kind eine Kiste zum Schlafen beschafft und es zum ersten Mal richtig gewickelt hatte. Am Nachmittag des 10. Mai ging der Onkel mit ihr zur Ulrichskirche. Es war ein kurzes Stück Weg von seinem Haus in der Großen Märkerstraße bis zur Kirche, trotzdem schnaufte er, weil er schnell ging, um von niemandem auf diesem Weg gesehen und angesprochen zu werden.

      Conrad Bertram war ein betuchter Bürger, massig, dunkelblond und im besten Alter. Sein Haar war kurz geschoren, weil er draußen die große Perücke trug, ohne die ein Mann von Stand nichts galt. Rund wölbten sich die rosigen Wangen, unter ihnen der Ansatz von Doppelkinn. Den fein gewebten Stoff seines Rockes hatte Magdalene wie befohlen gut ausgebürstet. In seiner Rocktasche steckte ein hellblaues Tüchlein von der Farbe seiner Augen, das ihm vor seinen Klienten ein gewisses Maß an höfischer Gewandtheit verleihen sollte. Conrad Bertram galt als wichtiger Mann in der Stadt Halle. Er hatte ein achtjähriges Rechtsstudium in Jena und Wittenberg vorzuweisen, praktizierte als Jurist für ausgewählte Klienten und beriet den Vorstand der Ulrichskirche in gewissen Angelegenheiten. Sein Sinnen und Trachten ging dahin, ein noch wichtigerer Mann zu werden. Das Vorsteheramt in der Ulrichskirche war vakant und er hegte große Hoffnungen, erwählt zu werden, denn der Name Bertram besaß in Halle und in der Ulrichskirche einen guten Klang. Sein Vater Sixtus Bertram, Magdalenes Großvater, war Pfarrer in der Ulrichskirche und Schullehrer gewesen. Conrad Bertram atmete schwer, da er die Last seines Schmerbauches zu tragen hatte und auch sonst muskulös war, wie seine Frau es auszudrücken pflegte. Er ging langsam und geriet darüber schnell in Schweiß. Wie er sich bewegte, war auch sein Reden. Dafür nutzten die Leute allerdings das Wort »wohlüberlegt«. Seine Stimme tönte tief und flößte durch ihre Lautstärke Respekt ein, eine Fähigkeit, die seinem Beruf dienlicher war als zaghaft vorgebrachte Klugheit.

      Der Onkel kannte den Pfarrer der Ulrichskirche gut, einen Amtsnachfolger seines eigenen Vaters. Er schob Magdalene vor sich her in die Kirche hinein, wo der Pfarrer wartete. Magdalene trug das Kind auf ihren Armen. Es war in ein weißes Tuch gewickelt und schlief friedlich.

      Der Pfarrer waltete seines Amtes schnell und effizient. Er taufte den Kleinen auf den Namen Johannes Conrad Bertram. Magdalene sah das Taufwasser über die kleine Stirn rinnen und dachte darüber nach, wo man den kleinen Hans getauft hätte, wenn sie nicht zurück nach Halle gegangen wäre.

      Das Kind verschlief die Taufe. Wie auf dem Hinweg nahm Conrad Bertram seine Nichte schnell und unauffällig mit nach Hause. Dort stellte sie sich in die Küche zu Anna und begann ihre Arbeit. Das Kind blieb bei ihnen.

      Es war in den vergangenen vier Wochen ihr Alltag geworden, in der Küche zu stehen oder im Haus diejenigen Arbeiten zu verrichten, für die Anna allmählich zu alt wurde. Magdalene verließ das Haus nicht. Vier Wochen lang wiegte sie sich in dem Glauben, sie wäre unsichtbar für alle Menschen und von den Nachbarn wüsste keiner, dass sie wieder da war. Das war, bei Lichte betrachtet, Unsinn. In einer Stadt wie Halle, mit zehntausend Einwohnern, konnte man nicht unbeachtet leben, erst recht nicht als Nichte eines bedeutenden Mannes. Es war Stadtgespräch, dass man Magdalene, o Wunder, nach mehr als einem Dreivierteljahr lebend wiedergefunden habe. Dass an der Sache einiges Rätselhafte war, machte sie erst richtig interessant.

      Magdalene spürte es, als sie Anfang Juni das erste Mal sonntags mit den Bertrams in die Kirche gehen musste. Wenigstens waren ihr Gesicht wieder glatt, die Schwellung und das blaue Auge verschwunden. Sie sah die Blicke rings um sich aufflammen. Keiner sprach sie an, aber alle Leute beobachteten sie. Jeder malte sich bei ihrem Anblick aus, was geschehen sein mochte. Sie hatte den Hans zu Hause gelassen, trotzdem musterten die Nachbarn unverschämt ihre volle Brust und ihren Nacken hinter dem gesenkten Kopf, als wäre es nötig, sie darauf zu schlagen.

      Als sie zu Hause war, stürzte sie in ihre Kammer und heulte eine Stunde lang, ohne das Kind zu beachten, das nach Nahrung schrie. Am Ende der Stunde wischte sie sich das Gesicht ab und wandte sich Hans zu. Es sollte so sein. Wenn sie es sowieso alle wussten, konnte sie ohne Scheu ihren Platz in der Stadt einnehmen.

      Bei Tisch wurde