Ganz am Rand des Gewölbes und doch im Zentrum aller Aktivitäten stand die Kiste. Ein Sarg – das war Stahnkes erster Gedanke, aber immerhin wusste er auch bereits, was sich darin befand. Eine Leiche. Und Wasser. Dieses Wasser wurde gerade von zwei Beamten in gazeartigen weißen Overalls vorsichtig abgepumpt; offenbar sollte die Flüssigkeit noch gründlich untersucht werden. Sicherlich eine richtige Maßnahme, dachte Stahnke, auch wenn er bezweifelte, dass man etwas Signifikantes darin entdecken würde. Aber zweifeln hieß nicht wissen, und auf Wissen kam es an.
Der Körper war der eines alten Mannes, der wohl nicht sehr groß gewesen war, sofern man das von einem Liegenden überhaupt bestimmt sagen konnte. Der Tote trug weiße Unterwäsche, war weder dick noch dünn. Sein nasses, weißgraues Haar war halblang und noch sehr dicht, nur in der Stirn ein wenig gelichtet. Die Augenlider waren geöffnet, die Augen dunkelbraun. Die Nase war kräftig, der Mund breit, die Lippen waren schmal, das Kinn war rund, aber breit, weder fliehend noch vorstehend. Kein besonders auffälliges Signalement, musste Stahnke sich selber eingestehen.
»Hatte er etwas bei sich?«, fragte er Kramer, der wieder einmal neben ihm aufgetaucht war wie aus der Erde gewachsen. Stahnke wies auf den Boden: »Hier liegt ja allerhand rum, auch Kleidung.«
Kramer schüttelte den Kopf. »Eher unwahrscheinlich, dass etwas davon dem Toten gehört hat, die meisten Sachen müssen hier schon lange gelegen haben. Kommen auch von der Größe her nicht hin. Auf alle Fälle keine Spur von Papieren jeder Art, Ausweis, Führerschein, Geldkarten, nichts. Irgendwer hat ihn gründlich gefilzt.«
»Wurde er schon gedackelt?«
»Nein.« Ein Wie denn auch? schwang unhörbar mit. Klar, zunächst einmal musste die Leiche ja aus dem Wasser und der Kiste heraus, ehe man eine Daktyloskopie vornehmen konnte. Eine Maßnahme, deren Erfolg angesichts der aufgeweichten Haut und der verschrumpelten Fingerspitzen des Toten zudem recht zweifelhaft war. Bloß gut, dass de Beer nicht in Hörweite gewesen war! Aber wie auch immer, Fingerabdrücke würden nur dann etwas nützen, wenn der Tote bereits in der Kartei erfasst war.
»Glaubst du denn, dass er Akte hat?«, fragte der Hauptkommissar.
»Sieht nicht aus wie einer, der bei uns arbeiten lässt«, erwiderte Kramer.
»Wieso glaubst du das?«
»Nur so ein Gefühl.« Kramer wandte sich wieder ab; so bekam er nicht mit, dass Stahnke leise durch die Zähne pfiff. Sieh an, Kramer hat nicht nur ein Gefühl, er äußert es auch! So was gehört im Kalender angekreuzt, dachte Stahnke, und zwar rot.
Ein Fotograf mit konventionell aussehender, aber natürlich ebenfalls digitaler Kamera schoss eine Fotoserie, ehe der Körper aus der entleerten Kiste gehoben wurde, und der Hauptkommissar vergewisserte sich, dass auch Porträtaufnahmen darunter waren. Dann musterte er die Plastikriemen, mit denen der Tote an Händen und Füßen gefesselt war. Kabelbinder aus weißem Kunststoff, die lange Version, allem Anschein nach in handelsüblicher Ausführung. Konnten überall gekauft worden sein, aber immerhin, wieder ein Detail, an dem man ansetzen konnte und musste.
Das Innere der sargähnlichen Kiste sah verwittert aus. Zahlreiche tiefe Schrammen und Kerben deuteten auf intensive, vermutlich langjährige Nutzung hin. Nutzung als was? Die Wasserreste am zerfurchten Boden der Kiste schienen Spuren von Sand aufzuweisen, mit dunklen Beimischungen. Hatte der Sand an dem fast nackten Körper gehaftet, oder befand er sich schon länger in dem Behältnis? Stahnke riet auf Letzteres. Vielleicht war in dieser Kiste etwas gelagert worden, Kartoffeln etwa oder andere Vorräte, dabei sammelten sich leicht Sand und Erdkrümel an. Andererseits machten Kartoffeln keine Schrammen … Werkzeuge vielleicht? Oder Gartengeräte. Ja, das war es wohl. Damit wäre auch das sargartige Format der Kiste zu erklären.
Nicht aber das, was sich in den Ecken und Ritzen befand. Stahnke beugte sich weiter vor, die Hände auf dem Rücken, um nur ja keine Spuren zu gefährden. Alle Winkel und Stöße innerhalb der Kiste waren mit einer weißen Masse abgedichtet. Vermutlich Silikon, sauber aus einer Patrone in alle Ritzen gedrückt und glattgestrichen. Da hatte einer sorgfältige Vorbereitungen betrieben. Warum eigentlich? Und wie sorgfältig? Vielleicht hatte der Täter die Silikonwürste ja mit dem Finger geglättet.
Mit einer Kopfbewegung wies Stahnke einen der Techniker auf die Dichtungen hin. Die Antwort bestand aus einem müden Nicken und einem Rollen der Augen. Man sollte den Leuten eben nicht ihren eigenen Job erklären, dachte der Hauptkommissar. Es reichte, wenn de Beer das tat.
Die Leiche war inzwischen auf eine Plane gebettet worden, und Dr. Mergner hatte mit einer ersten, flüchtigen Inaugenscheinnahme begonnen. »Fitter alter Knabe«, meinte der Mediziner und zwinkerte hinter seinen flaschenbodendicken Brillengläsern. Seine eigenen Haare waren deutlich spärlicher und weißer als die des Toten, dafür sträubten sie sich in alle Richtungen. »An die achtzig Jahre, würde ich sagen, vielleicht älter. Kriegsgeneration. Da, eine Narbe an der Schulter. Dies hier am Unterarm könnte eine weitere sein. Und wer weiß, was da noch alles unter der Wäsche ist.«
»Diese Narben scheint er ja wohl auf jeden Fall überlebt zu haben, richtig?«, unterbrach Stahnke den Pathologen. »Mich würde vor allem die mutmaßliche Todesursache interessieren.«
Mergner rollte seine Augen exakt so wie zuvor der Kriminaltechniker. »Nun geht das wieder los! Stahnke, werden Sie nicht albern. Wurde dieser Corpus nicht eben erst aus einer wassergefüllten Kiste gezogen? Einer verschlossenen noch dazu, wie der Leichenfinder zu Protokoll gegeben hat? Da werden Sie ja wohl nicht erwarten, dass ich vorschnell diagnostiziere, der Mann sei ertrunken. Denn wenn das stimmt, wäre dafür kein Ruhm zu ernten. Falls das aber nicht stimmt, und dafür bleiben ja immerhin ein paar Prozent Restwahrscheinlichkeit, hätte ich mich mit einer vorschnellen Festlegung gründlichen blamiert. Sie verstehen?«
»Natürlich«, erwiderte Stahnke in beschwichtigendem Ton. »Zumal der ganze Keller ja völlig unter Wasser stand.«
Diesmal war Mergners Blick voller Verachtung, und der Doktor würdigte den Hauptkommissar keines weiteren Kommentars.
»Eine Kiste mit Wasser, ein gefesselter Mann«, murmelte Stahnke vor sich hin. »Woran erinnert mich das?«
»Waterboarding«, antwortete Kramer, der wieder einmal direkt neben Stahnkes rechtem Ellenbogen aus dem Boden gewachsen zu sein schien, ohne zu zögern. »Folter durch scheinbares Ertränken. Wird von den Amerikanern gerne angewandt. Gewöhnlich aber nicht hier bei uns.«
»Waterboarding?«, fragte Stahnke. »Geht das nicht anders?«
»Stimmt schon«, bestätigte Kramer. »Bei den Amis wird der Delinquent rücklings auf ein schräges Brett geschnallt, so dass der Kopf tiefer liegt als die Füße, dann wird ihm Wasser so übers Gesicht und in Mund und Nase geschüttet, dass das Opfer zu ertrinken glaubt. Was meistens nicht geschieht, aber die Möglichkeit reicht ja, um Panik auszulösen.« Der Oberkommissar zuckte die Achseln. »Anders, klar. Aber mit dieser Kiste ginge das auch. Siehst du das kleine Loch da im Deckel? Das wurde kürzlich erst hineingebohrt, die Ränder sind frisch. Der Durchmesser entspricht dem eines Gartenschlauchs. Stell dir mal vor: Delinquent da hinein, Deckel zu, Schlauch ins Loch, und dann Wasser marsch. Nicht zu schnell natürlich, damit das Opfer auch Zeit hat, vor Angst fast wahnsinnig zu werden.«
Stahnke bekam eine Gänsehaut. Er starrte Kramer mit großen Augen an. »Du bist ja richtig zu Spekulationen aufgelegt! Und dann auch noch zu so brutalen. Gab es gestern einen James Bond im Fernsehen?«
»Nein«, erwiderte Kramer ungerührt. »Aber eine Doku aus dem Irak.«
Stahnke nickte. Seine Gänsehaut blieb. »Was die Details angeht, sind solche Typen bestimmt nicht kleinlich«, sagte er betont forsch. »Andere Länder, andere Foltersitten, nicht wahr? Und wer foltert, nimmt immer