Martha schweigt. Anna Neder von der Goltz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anna Neder von der Goltz
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783826080623
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stehen und die Mütter der beschenkten Kinder eilten herbei, nahmen diesen die Döschen aus der Hand, legten sie auf der Waagbank ab und warfen dem Soldaten einen misstrauischen Blick zu. Die Kinder, die vom Jeep weggezerrt worden waren, murrten nicht allzu sehr, denn sie wussten, dass sie später, wenn die Soldaten fort waren, ihre Beute holen konnten und ihre Mütter neugierig von den Keksen und der Erdnussbutter probieren würden. Für den Moment waren sie froh, dass ihnen wenigstens die Kaugummis geblieben waren.

      Martha war vor der Metzgerei stehen geblieben, Annegret, mit einem Stoffbeutel in der Hand, trat zu ihr, und Liesl, ein Kopf größer als sie, gesellte sich zu den beiden. Liesl war die älteste von den dreien und trug auch werktags keine Schürze. Sie hatte ein leichtes Sommerkleid an, das ihre weiblichen Formen betonte, und über die Schultern ein farbenfrohes Baumwolltuch gelegt. Am Arm hing ein großer Weidenkorb, mit dem sie wie immer viel einkaufen würde.

      Der weiße GI kam vom Dorfplatz über die Straße zum Gasthaus gelaufen, wo er wie immer eine Brotzeit für beide holen würde. Als er an Liesl vorbei ging, grüßte diese keck:

      „Hello, Sir!“

      Er warf ihr einen freundlichen Blick zu:

      „Good morning, nice girl!“

      Im gleichen Moment traf der Bäcker Körner mit seinem Handkarren vor den Stufen der Metzgerei ein und hielt an. Er ließ dem Soldaten den Vortritt, und als die Tür zur Metzgerei mit einem Klingeln zugefallen war, wandte er sich an die Umstehenden und sagte deutlich und laut mit einem Fingerzeig in Richtung des schwarzen Soldaten:

      „Da ham se uns ein Gesocks ins Dorf geschickt.“

      „Es hätt ja net auch noch ein Schwarzer sein müssen“, unterstützte ihn eine der Frauen. „Wer weiß, wie dreckig die sind.“

      Annegret und Martha blickten sich an und hörten, wie die Frau weiter hetzte. „Na, schau dir doch die Handflächen von denen an. Es is scho’ komisch, dass die dort ganz hell sind.“

      Annegret und Martha schluckten, sie wussten, dass die Hautfarbe kein Dreck war. Damals hatten sie Rico, den kleinen dunkelhäutigen Jungen vom Wanderzirkus, weggelockt. Sie wollten herausfinden, ob diese Behauptung stimmte. Liesl hatte einen Eimer mitgebracht, Martha eine Wurzelbürste und Annegret Scheuerpulver. Sie schrubbten ihn, bis er schrie. Liesl, die stärkere von ihnen, hielt ihn fest, Annegret stäubte das Ata Pulver auf seinen kleinen schwarzen Körper und Martha schrubbte ihn mit der Wurzelbürste ab, bis sie ins Schwitzen kam. Liesl tauchte ihn immer wieder in das Wasser des Baches, doch es war nichts zu machen, die Haut blieb schwarz, nur in der Hand war sie hell geblieben und mittlerweile schrumpelig geworden von dem vielen Wasser. Die andere Hand, die Rico zur Faust gemacht hatte, ließ sich nicht öffnen. Sie hörten erst auf, als sie Rufe einer Frau vernahmen, die auf die Steinbrücke gelaufen kam und immer wieder den Namen Rico rief. Sie rannten davon. Erst nach Stunden hatte die Mutter ihren kleinen Jungen wiedergefunden.

      Martha und Annegret schauten zu Liesl hoch, suchten ihren Blick, doch diese hielt den Kopf erhoben und schaute von der Treppe der Metzgerei aus weit über die Menge der Umherstehenden hinweg. Als der weiße Soldat aus der Metzgerei kam, grüßte er Liesl erneut mit „Goodbye, Lady“ und warf ihr einen freundlichen Blick zu.

      Als er über die Straße ging und in seinen Jeep einstieg, folgte Liesl ihm. Auf dem Dorfplatz angekommen, drehte sie sich vor den Augen der beiden Amerikaner und der Menge einmal um sich selbst, öffnete ihr Tuch und drückte ihren Busen nach vorne und tanzte mit schwingenden Hüften vor den Zuschauern auf und ab.

      Die älteren Frauen schüttelten den Kopf. „Also so ein ungezogenes Ding!“ Dann stoppte Liesl ihren Tanz und rief in Richtung der sich Empörenden: „Ich kauf mir jetzt beim Bäcker zwei Amerikaner, aber zwei weiße!“, und grinste ihnen frech zu.

      6 Der Fluch

      Sein Blick vom Schreibtisch aus fiel durchs Fenster in den Garten. Die Schulhefte stapelten sich an beiden Seiten. Ich werde den Fehlern der bildungsunwilligen Dorfkinder nie Herr werden, dachte er und fragte sich, wie lange er noch das Stöhnen und Jammern seiner kranken Frau, das durch die geöffnete Tür des angrenzenden Schlafzimmers zu hören war, ertragen werde können. Er war nicht wirklich froh darüber, wieder vom Krieg heimgekehrt zu sein. Sie hatten monatelang gehungert, gefroren und jeden Tag um ihr Leben gekämpft. Aber was ihn hier erwartete, welches Leben sollte das sein?, dachte Friedrich. Und der Hof, ein Gutshof, von dem er so geträumt und den man ihm nach dem Endsieg versprochen hatte, war für alle Zeiten verloren. So einen Hof, wie ihn Vater hatte, im Nachbarort mit Pferdeställen, Vieh auf der Weide, Scheunen und Weinkeller, und den sein jüngerer Bruder, sein behinderter Bruder geerbt hatte – der ein Krüppel war.

      Schorsch, sein älterer Bruder, wäre der rechtmäßige Hoferbe gewesen. Friedrich nahm das gerahmte Foto von ihm, das seit vielen Jahren auf seinem Schreibtisch stand, verblichen vom einfallenden Licht der Sonne, in beide Hände.

      *

      Sechzehn Jahre war Schorsch damals alt, mit seinen blonden Locken, den strahlend blauen Augen und dem verschmitzten Lächeln in seinem Gesicht, den Kopf leicht abgewandt, immer im Gehen begriffen, immer unterwegs.

      „Kommst du mit?“, rief er fröhlich, schnappte sich das Moped vom Vater, fuhr die Feldwege entlang und quer die Wiesenhänge hinab. Friedrich musste sich beeilen, wenn er mit dem dunkelroten Damenfahrrad seiner Mutter hinterherkommen wollte. Schorsch schnitt ihm den Weg ab, fuhr Zickzack, wenn sie um die Wette die staubige Dorfstraße entlangfuhren, und lachte laut, während seine blonden Haare nach hinten flogen. Ab und zu nahm er Friedrich auf dem Gepäckträger mit. Er musste sich immer enger an den Rücken seines großen Bruders klammern, während sie den Wiesengrund hinunter holperten, wo sie das Moped ins Gras warfen und sich raufend auf dem Boden wälzten. Ihre Wangen waren erhitzt, wenn sie ihre von Schweiß und Staub klebenden Hemden über den Kopf streiften, die Hosen auszogen und in den Karpfenweiher sprangen, in dem es verboten war zu baden. Dort am Ufer unter der Trauerweide lagen sie stundenlang im Gras, träumten von Mädchen und davon, wie ihr Leben wohl einmal aussehen würde.

      Vater war Bürgermeister im Ort gewesen. An Kirchweih durften sie immer in einer Kutsche sitzen, die inmitten des Trachtenzuges durch das Dorf fuhr. Oft ließ er das Pferdegespann anhalten, wenn er Schorsch und Friedrich am Straßenrand sah und ließ sie zusteigen.

      Im Winter spannte er den Ackergaul vor den großen Schlitten, ließ alle Kinder aus der Nachbarschaft, in dicke Pferdedecken eingehüllt, aufsitzen und fuhr mit ihnen über die verschneiten Wege. Er blieb immer in Sichtweite des Dorfes, damit er sich bei der früh einfallenden Dunkelheit nicht verirrte und durch das warme Licht in den Fenstern der Häuser und den Petroleumlampen vor den Haustüren wieder den Weg zurückfand.

      Im Herbst und den ganzen Sommer über wanderten sie sonntags mit Vater durch den Wald an der Kapelle Terzenbrunn vorbei zu seinen Verwandten nach Arnshausen. Sie schoben das Laub mit ihren knöchelhohen Schuhen vor sich her und freuten sich, wenn die Blätter in die Luft wirbelten. Sie schnitzen heimlich Zeichen oder Buchstaben mit ihren Taschenmessern in die Rinden der Bäume und mussten sich beeilen, Vater wieder einzuholen, damit er nichts merkte. Und wenn sie abends nach Hause kamen, machte Mutter ihnen ein Fußbad, brockte Brot in warme Milch und ließ sie oftmals im elterlichen Bett schlafen, was sonst nur dem jüngeren Bruder Ferdinand wegen seiner Krankheit vorbehalten war.

      An Weihnachten und Ostern kamen Patres aus dem nahegelegenen Kloster ins Dorf, um die Messe und die Beichte abzuhalten. Sie wohnten immer beim Bürgermeister. Friedrich und Schorsch durften dann lange aufbleiben. Am Abend erzählten diese von ihren Missionarsreisen nach Afrika, von Elefanten, Löwen und anderen Abenteuern.

      Schorsch und er mussten immer grinsen, wenn die Patres am Karfreitag Bauernwürste oder Kesselfleisch aßen, was für Katholiken einer Todsünde glich. Mutter ermahnte ihre Buben jedes Mal mit erhobenem Zeigefinger zu schweigen und erklärte wiederholt, dass man unter einem fremden Dach das Essen des Gastgebers nicht verschmähen durfte, was sie nicht erwähnte war, dass sich die Patres diese Verköstigung ausdrücklich gewünscht hatten.

      Abends rauften die Patres mit Friedrich und Schorsch oftmals auf dem Teppich vor dem Kaminofen in der warmen Wohnstube und strichen den beiden Brüdern