Diese Arbeit erzählt die Geschichte der DDR-Bürgerrechtsbewegung und versteht diese als eine politisch-ideologische Formation, die sich im Laufe der 1980er Jahre unter einem gemeinsamen Denk- und Handlungszusammenhang formierte und aus diesem Dispositiv heraus die Inhalte und Praktiken der Revolution von 1989/90 in der DDR entscheidend prägte.7 Dabei fragt sie nach den gemeinsamen Problemdeutungen und Erwartungshorizonten ihrer Akteure sowie jenen Denktraditionen und Erfahrungszusammenhängen, die es vermochten, die innere Diversität dieser sozialen Bewegung zu überspannen und auf eine gemeinsame gesellschaftliche Zielvorstellung hin auszurichten. Damit hat diese Arbeit ihren Ausgangspunkt auf der Ebene der Ideen- und Ordnungsvorstellungen, verbindet diese mit den sozialen Praktiken und Kontexten oppositioneller Lebensformen und revolutionär empfundener Situationen,8 um damit das politisch-ideelle Konglomerat und seine Gestaltungskraft während des inneren Zerfalls des SED-Regimes zu erfassen. Darin zeigt sich, dass bedeutende Protagonisten der Revolution auf eine staatlich eigenständige, reformsozialistisch-zivilgesellschaftlich geprägte Entwicklung der DDR orientiert waren, welche sich gleichermaßen als Absage an die Diktatur der SED und an den liberal consensus des „Westens“ verstand und damit an die konsumkritischen und postmaterialistischen „Abschiede“ von demselben in den westlichen Industriestaaten seit den späten 1960er Jahren anknüpfte.9 Die DDRBürgerrechtsbewegung formulierte aus ihren spezifischen Umständen im Einparteienstaat eine verflochten-eigene Idee – die Idee von der „zivilen Gesellschaft“ –, die ihr gleichermaßen zur politischen Zielvision und Handlungsstrategie werden sollte.10
Den engeren Untersuchungszeitraum der Arbeit bilden jene Monate zwischen Spätsommer 1989 und Frühjahr 1990, die den inneren Zerfall des SED-Regimes und das Ende der DDR besiegelten. Im Zentrum steht also die gemeinhin als Friedliche Revolution bezeichnete Epoche, welche die oppositionellen Gruppierungen und Parteien der Bürgerrechtsbewegung zuerst in die Legalität, dann an den Runden Tisch und schließlich in das seit zwei Generationen erste frei gewählte Parlament in Ostdeutschland führte. Die Arbeit nimmt aber auch die Formierungsphase der Bürgerrechtsbewegung seit Mitte der 1980er Jahre in den Blick und streckt den zeitlichen Horizont mitunter noch weiter in die Vergangenheit, um die Traditionsbestände des Denkens und Handelns ihrer Akteure sichtbar zu machen. Dabei sieht die Arbeit die Akteure der DDRBürgerrechtsbewegung und deren Ideen- und Ordnungsvorstellungen in eine transnationale Konstellation eingebettet, welche nach Ost und West ausgriff und die sowohl durch Ideentransfers und Übersetzungsprozesse, durch personellen Austausch und organisatorische Kooperationen als auch durch adaptierende und ablehnend-abgrenzende Wahrnehmungen geprägt war.11 In diesem Sinne soll die Entwicklung regimekritischen Denkens und Handelns im letzten Jahrzehnt der DDR in ihren über den nationalstaatlichen Rahmen hinausweisenden Abgrenzungs- und Verflechtungstendenzen sichtbar gemacht werden.12 Zudem reicht die Bedeutung des hier behandelten Themas über den engen Zeitraum der späten 1980er Jahre nach vorne hinaus, weshalb sich die Arbeit auch als eine „Problemgeschichte der Gegenwart“13 versteht, die den zentralen Referenzpunkt des Transformationsprozesses und Beginn eines neuen Epochenzusammenhangs im regionalen Kontext Ostdeutschlands politisch-ideologisch absteckt.14 Inwiefern – so die virulente Frage am Horizont des hier behandelten Themas – kann die heute in Teilen der ostdeutschen Bevölkerung verbreitete Skepsis gegenüber der liberalen Demokratie westlicher Prägung auf spezifisch ostdeutsche Staats- und Gesellschaftsvorstellungen zurückgeführt werden, die in der Revolution von 1989/90 als Erwartungshaltungen an den Wandel formuliert, im Transformationsprozess aber delegitimiert wurden?
Um den politisch-ideellen Kern der Bürgerrechtsbewegung, den sie zusammenhaltenden Denk- und Handlungszusammenhang herauszustreichen, soll vor allem das Demokratieverständnis ihrer herausragenden Akteure, also die Konzeptualisierungen des Politischen auf „Entscheider-Ebene“ untersucht werden. Auch wenn sich die Bürgerrechtsbewegung in weiten Teilen als basisdemokratisch und hierarchiefeindlich verstand, erlaubt die exponierte Stellung einiger ihrer wichtigsten Protagonisten eine akteurszentrierte Sichtweise. Gleichwohl kann somit keine vollständige, alle regionalen Verzweigungen und ideellen Gegenläufigkeiten einschließende Geschichte erzählt werden. In der Ausgestaltung des Demokratiebegriffs – so die Annahme – kondensierten Vorstellungen von Staat und Gesellschaft sowie Bilder vom Menschen. Was für eine Vorstellung von demokratischer Willensbildung und politischen Kultur entwickelten die Akteure und auf welche gesellschaftliche Reichweite waren ihre Konzepte angelegt? Von welchen Ideen und Ordnungsvorstellungen grenzten sich die Akteure ab, auf welche bezogen sie sich positiv? Wie wirkten ihre Erfahrungen im Staatssozialismus auf ihre Konstruktion des Politischen und was für eine Idee von Sozialismus konnte dann überhaupt noch positiv vertreten werden? Inwiefern prägten ihre Ideen von Demokratie die Protestpraktiken und Inhalte des Herbstes 1989 und wie wirkten diese Erfahrungen zurück auf ihr Bild von Demokratie und Gesellschaft? Welche gesellschaftlichen Veränderungen verknüpften sie mit ihrem demokratietheoretischen Programm und warum glaubten sie in der Stärkung plebiszitärer Elemente ein adäquates Mittel zur Überwindung der Diktatur und Etablierung einer Gesellschaft, die „Demokratie und Sozialismus und Freiheit“15 zusammenführt, zu sehen?
Indem mit der DDR-Bürgerrechtsbewegung die Formierung und Geschichte einer politisch-ideologische Formation in ihrer konkreten Zeit- und Kontextgebundenheit untersucht wird, erbringt die Arbeit sowohl einen Beitrag zur Geschichte von Widerstand und Opposition in DDR und zur Geschichte der Revolution von 1989/90 als auch zur europäischen Politik- und Ideengeschichte des ausgehenden 20. Jahrhunderts.16 In ihrem Ansatz konzentriert sie sich auf Wahrnehmungen und Deutungen der Akteure und fragt gezielt nach deren Bedeutungen für die politisch-soziale Praxis. Damit bewegt sich diese Untersuchung im Bereich der Neuen Ideengeschichte, welche „die vielschichtigen Wechselwirkungen zwischen sozialen Situationen, materiellen Bedingungen und lebensweltlichen Konstellationen einerseits sowie Ordnungsvorstellungen, Diskursen und Denkgebäuden andererseits“ herauszuarbeiten sucht.17 Methodisch interessiert sich dieser Ansatz folgerichtig für die Begriffssprache, für die Argumente, Topoi und Metaphern der Akteure, die als Träger ihrer Ideen, aber auch in ihrer integrativen und mobilisierenden Funktion, also in ihrer strategischen Verwendung durch die Akteure, betrachtet werden. Diese Herangehensweise an das Thema sowie die Eingrenzung des zeitlichen Rahmens auf die Jahre 1989 und 1990 bestimmen auch die Quellenauswahl. Programmatische Schriften, Artikel, Erklärungen, Appelle, Flugblätter und Reden der oppositionellen Gruppierungen und Parteien stehen deshalb an erster Stelle. Hinzu kommen literarische Texte, die die Diskurse der Bürgerrechtsbewegung in fiktiven Szenarien verhandelten und auch Sitzungsprotokolle, Beschlüsse und Entwürfe des Zentralen Runden Tisches, der im Winter 1989/90 zum wichtigsten Ort des bürgerrechtsbewegten Diskurses avancieren sollte. Schließlich spielen zeitgenössische und retrospektive Selbstreflexionen der Akteure eine wichtige Rolle und weil hier die Grenze zur geschichtswissenschaftlichen Forschungsliteratur häufig eine durchlässige war und ist, werden in den einzelnen Kapiteln dieser Arbeit ausführliche Passagen mit Bemerkungen zum Forschungsstand stehen.
Der erste Teil der Arbeit (Kapitel