Etwas war ihr aufgefallen. An den Handgelenken des Mannes. Es hatte sie irritiert.
Der Sturm hämmerte erneut gegen ihre Scheibe. »Seien Sie nicht albern! Kommen Sie da raus, bitte!«, schrie er.
Kommen Sie da raus.
Inna nickte.
Kommen Sie da raus.
Wie gern wär’ sie damals aus der Höhle gekrochen. Einfach so.
Sie öffnete die Tür, ließ sich vom Sitz gleiten. Tobende Schneeböen empfingen sie. Der Mann packte ihren Arm, stieß die Tür zu. Sie bückte sich, schützte sich vor den gewaltigen Schneeflocken. Mit großen Schritten stapfte der Fremde durch den tiefen Schnee und zog sie hinter sich her. Wann immer sie stolperte, weil seine Schritte viel zu groß waren, riss er sie hoch und zog sie weiter. Ihr Arm schmerzte. Seine groben Hände bohrten sich durch ihre Jacke. Sie kniff ihre Augen zusammen.
»Rein hier!«, hörte sie ihn brüllen.
»Rein hier!«, hörte sie Jenke.
Inna öffnete ihre Augen einen Spalt, zwängte sich durch die schmale Türöffnung.
Der Mann stieß sie aus dem Weg, zog die Tür mit einer kräftigen Bewegung zu. Er klopfte seine schwere Jacke ab und stampfte auf den Boden. »Geschafft«, verkündete er erleichtert. »Haben Sie nasse Füße?« Er zeigte auf ihre Turnschuhe.
Inna wackelte mit den Zehen.
»Schön warm ist es hier«, bemerkte er.
Schön warm ist es hier.
Inna nickte wieder.
Der Mann zeigte in die Halle. »Viel angenehmer, als die ganze Nacht in Ihrem Auto zu verbringen. Wir haben es warm, wir haben …« Er schaute sich um. »Wir können uns setzen, wir haben einen Weihnachtsbaum.« Er lachte. »Vielleicht sind die Kugeln etwas groß, aber er passt in das spärliche Ambiente.«
Inna zog ihre Jacke aus und hängte sie an die Garderobe.
Menschen.
Nette Menschen.
Nette Menschen fragt man nach ihren Hobbys. Oder danach, was sie am Wochenende vorhaben.
Er reichte ihr seine Jacke, lächelte dankbar. »Ich heiße Igor.«
Igor.
Igor hatte große, raue Hände. Arbeiterhände. Und dann sah sie erneut, was sie im Auto bereits irritiert hatte. Ein bläulicher Schatten um seine Handgelenke.
»Gibt es jemanden, der auf Sie wartet? Der Sie heute Nacht vermisst?«, fragte er.
Jenke. Jenke wartete auf sie.
Sie ging zu einem der Telefone, wählte Grunewalds Nummer. Kein Freizeichen. Nicht einmal ein Knacken. Sie schluckte. »Grunewald?«, fragte sie in den Hörer, klammerte sich am Schreibtisch fest. »Du musst herkommen.« Sie legte auf, räusperte sich. »Grunewald kommt.« Inna schaute auf ihre Armbanduhr. »Gleich«, log sie.
Igor lächelte. Sein Lächeln wirkte aufgesetzt.
»Dann …« Sie lief gezielt auf den Wasserkocher zu. »Sie wollen vielleicht einen Tee.« Sie holte zwei Tassen aus dem Schrank. Während der Kocher das kalte Wasser erhitzte, starrte sie auf die Anrichte.
Fragen.
Fragen stellen.
Fragen beantworten.
Zum Beispiel über das Leben.
Sie öffnete eine Packung Christstollen.
»Wenn Sie ein Messer haben?« Igor streckte ihr erwartungsvoll seine Hand entgegen. »Dann kann ich ihn in Scheiben schneiden.«
Inna schüttelte den Kopf. »Nein«, entgegnete sie, zeigte auf das Sofa am Fenster. »Setzen Sie sich.« Weit genug weg. Bis Grunewald kam.
Ihr Herz klopfte.
Grunewald würde nicht kommen. Es gab keinen Grunewald, der sie abholen würde. Es gab überhaupt niemanden.
Igor schaute zu Boden. »Ich jage Ihnen Angst ein, oder? Nach einem Messer zu fragen, ist nicht sehr hilfreich.«
»Nein.«
»Nein«, lachte er. »Das verstehe ich.« Er schlenderte zum Sofa und setzte sich. »Sie heißen Inna.«
Sie schluckte trocken.
Und dann hörte sie es wieder. Das unheilvolle Rascheln.
Igor wusste also Bescheid. Bescheid darüber, dass Grunewald nicht kommen würde. Bescheid darüber, dass sie nicht hatte telefonieren können. Igor wusste Bescheid, weil er selbst dafür gesorgt hatte, dass die Telefonleitungen tot waren.
7
Marga hielt die Luft an.
Geisterhafte Stille. Nicht ein einziges Geräusch. Regungslos, wie erstarrt, stierte sie zum Hof. »Nicht auf den See, Marga«, hörte sie ihre Mama sagen.
»Aber ich muss nach den eingefrorenen Schildkröten gucken.«
»In ein paar Tagen.«
Marga hatte trotzig ihre Arme verschränkt. »Ich will Schlittschuh laufen.«
»Übermorgen.«
»Warum erst übermorgen?«
»Weil der See erst dann richtig gefroren ist.«
»Weil der See erst dann richtig gefroren ist«, hatte Marga sie nachgeäfft. »Du versaust mir meine ganzen Ferien. Meine ganzen!«
»Wenn du den See betrittst, sperre ich dich ein, hörst du, Marga?«
Marga presste ihre Augen zusammen. Jetzt würde sie einbrechen und erfrieren. Nur, weil sie nicht auf Mama gehört hatte.
»Mädchen?«, fragte jemand.
Ein Buchfink flatterte von einem der Fichtenzweige. Marga schaute sich vorsichtig um.
»Steh nicht so rum.« Der Mann hatte sich aufgesetzt. Er streckte ihr seine Hand entgegen. »Hilf mir lieber.«
»Die Eisdecke«, flüsterte sie.
»Die Eisdecke hat sich nur vom Ufer gelöst.«
Marga nickte schwach. »Okay«, hauchte sie. »Und bist du wirklich der Weihnachtsmann?«
»Was bin ich?«
»Der Weihnachtsmann.« Sie zeigte auf seinen Anzug. »Wo ist dein Rentier? Und dein Schlitten? Und warum hast du keinen Bart?«
Der Mann hustete.
»Natürlich gibt es dich nicht, aber wie kommt ein normaler Mensch hierher, ohne Fußspuren zu hinterlassen? Du bist …«
»Bin ich nicht.«
»Und aus welcher Richtung bist du dann gekommen?« Sie breitete ihre Arme aus. »Und warum sieht man nichts davon?«
Der Mann ließ sich schnaufend auf den Rücken fallen, mit ausgebreiteten Armen lag er im Schnee, während um ihn herum weiße Flocken durch die Luft wirbelten und seine rote Jacke verzierten.
Marga zuckte mit den Schultern. Keine Diskussion mit dem Weihnachtsmann. »Und wirst du einfach da liegen bleiben?« Sie trat dicht an ihn heran und beugte sich über ihn. »Bist du verletzt?«
Umständlich drehte sich der Mann auf die Seite.
»Ich kann meinen Papa holen. Er hat einen Unimog. Wir können dich …«
»Nein«, stöhnte er. »Mich darf niemand sehen.« Er zeigte zum Himmel. »Weihnachtsmänner sind geheim.«
»Gibt es denn mehrere?«, staunte Marga. Sie winkte ab. »Mein Papa wird nichts sagen.« Sie zögerte. »Außerdem würde er gar nicht glauben, dass du der Weihnachtsmann bist. In meiner