Vorbemerkungen
Hauptschule, dreizehn Monate, Vertretung für einen erkrankten Lehrer, in einer abgewirtschafteten westdeutschen 100.000-Einwohner-Stadt. Ich war schon in der Fremde, aber nirgends fühlte ich mich so befremdet wie an dieser Schule, dreißig Kilometer entfernt von der eigenen Haustür. Im Einzelnen war mir nichts neu, in der Ballung aber hat es mich betrübt: der raue Umgangston, die Bildungsferne, die Fixierung aufs Smartphone, das patriarchale Gehabe, die Betonung der Nationalität bzw. Ethnie, schließlich das Prestige der Religion, die Selbstbesessenheit des Islams und der verbreitete Glaube an die Hölle.
Die Aufzeichnungen entstammen meinen Notizen, die ich nach den Schultagen in der S-Bahn niederschrieb, zumeist aus dem Bedürfnis heraus loszuwerden, was mir zusetzte, gelegentlich auch, um Schönes oder Lustiges festzuhalten. Wie im Titel angekündigt, handelt es sich um keine Analyse, sondern um Einblicke – mitunter unbewältigte, lückenhafte und widersprüchliche. So, wie im Folgenden in Worte gefasst und arrangiert, sollen sie die Konstellation verdeutlichen, in der Hauptschullehrer zurechtkommen müssen. Stärker strukturiert und erläutert, als dies in der Realität der Fall ist, werden sie nur stellenweise, insbesondere am Textanfang, um in die Begebenheiten des Hauptschulalltags einzuführen.
Alle Namen habe ich geändert, ihre ethnischen, religiösen und sozialen Anklänge aber belassen. Ach, herrje! – der ethnische, religiöse und kulturelle Hintergrund. Er wird im Folgenden zumeist mitgenannt, alles andere wäre realitätsfern. Viele der Schüler schieben ihn vor sich her, halten sich an ihm fest oder bleiben ihm gedankenlos verhaftet, teils, weil sie sich in Deutschland abgelehnt fühlen, teils, weil sie zur Wahrung ihres Blutes vulgo ihrer Identität erzogen werden (etwa im Geiste jener Rede, die Erdoğan am 10. Februar 2008 an seine »Brüder und Schwestern« in Deutschland richtete). Sofern der nämliche Hintergrund auch bei jenen erwähnt wird, die sich von ihm lösen und als Individuen hervortreten, dann, um diese Emanzipation darzutun – würdigend, was menschenmöglich ist.
Meine Fächer
Hauptsächlich wurde ich für den Nichtkonfessionellen Religionsunterricht, nebenbei auch noch als Lehrer für Geschichte, Erdkunde, Deutsch und Deutsch als Zweitsprache (DaZ) eingeteilt. In der Praxis hatte ich nur fünfzig Prozent festgelegten Unterricht. In der restlichen Zeit diente ich als Springer in unterschiedlichen Fächern, um Krankenausfälle zu kompensieren.
Das Kollegium und die Schulleitung waren untereinander und mir gegenüber hilfsbereit und, was die Bewältigung des Arbeitsalltags anbelangt, begrüßenswert pragmatisch.
Religionsunterricht
Während der Unterricht normalerweise im Klassenverband stattfindet, erfolgt der Religionsunterricht in Kursen. Vier Kurse stehen zur Auswahl: Katholische Religion, Türkischer Islamunterricht, Arabischer Religionsunterricht und Nichtkonfessioneller Religionskurs. Besucht wird Letzterer, für den ich verantwortlich war, mehrheitlich von Orthodoxen und Protestanten, überdies von ein paar Evangelikalen und Atheisten, ferner auch von Zeugen Jehovas, Jesiden, Hindus, Sikhs sowie von vereinzelten Katholiken und Muslimen, die keine Lust auf katholischen oder islamischen Religionsunterricht oder bestimmte Lehrer haben.
Blöcke
Die Neunzig-Minuten-Schuleinheiten heißen Blöcke. Einst wurden sie anstelle von 45-Minuten-Einheiten eingeführt, um die vertane Zeit beim Beginnen und Beenden von Schulstunden zu halbieren. Aber neunzig Minuten sind für viele Hauptschulklassen zu viel, sodass sich Extrapausen innerhalb der Blöcke und Klassenzimmer eingebürgert haben und sich die Unterrichtszeit unterm Strich verkürzt hat.
Erster Tag
An meinem ersten Arbeitstag war ich nur als Beisitzer eingeteilt.
Erster Block: Englisch in der 5b. Der Lehrer blieb ruhig, obwohl die Klasse laut war. Phoebe musste oder durfte fünf Minuten raus, um einen Lachkrampf auszukurieren, mit dem sie sich mitten im Unterricht auf dem Boden gewälzt hatte. Das Englischniveau ist höher als in der fünften Klasse, die ich 1990 in Ostdeutschland besuchte.
Zweiter Block: Geschichte in der 6b. Der Lehrer wurde öfter laut und schrie »Ruhe«. Die Klasse blieb unruhig. Ich durfte auch mal zehn Minuten unterrichten, bin ruhig geblieben, die Klasse unruhig.
Kennenlernen
8d, Religionsunterricht: Ein Islamlehrer fehlte, das Kurssystem scheiterte. Eine Kollegin und ich wurden der 8d zugeteilt. Beide waren wir unvorbereitet, ich schlug der Klasse eine Kennenlernrunde vor. Die meisten stellten sich, wohl dem Vorbild des ersten Schülers folgend, mit Name und Nationalität vor. Türken, Kurden aus Syrien und der Türkei, ein Albaner, ein Tamile aus Sri Lanka, ein Sikh aus Indien, ein Syrer, der Wert darauf legte, einen Vater zu haben, der in Saudi Arabien ein gemachter Mann sei, und eine Schülerin, die meinte, sie wolle wieder zurück nach Bayern, woher sie komme. Daraufhin bekundeten auch andere Schüler, später wieder zurück in ihre Heimat bzw. die ihrer Eltern zu wollen.
Daraufhin ich: »Aber stellt euch vor, ihr verliebt euch hier, etwa in eine Deutsche. Dann bleibt ihr doch hier, oder?«
Gelächter. Der Kurde erklärend: »Die Eltern suchen aus, wen wir heiraten; bestimmt keine Deutsche.«
Die Lehrerin: »Aber ihr dürft doch mitentscheiden?«
Man könnte protestieren, aber nicht so richtig entscheiden, erklärten uns die Moslems und der Sikh.
Die Lehrerin: »Gibt es eine Probezeit? Könnt ihr eure zukünftige Frau vor der Hochzeit unverschleiert sehen? Nicht, dass sie hässlich ist!«
Die Jungs wieherten vor Lachen und klärten uns auf: Die Mutter könne die zukünftige Schwiegertochter unverschleiert zu Gesicht bekommen. Außerdem, wenn etwas mit der künftigen Frau nicht stimme, so sei deren Familie verpflichtet, das vorher mitzuteilen. »Da wird zwischen den Familien schon abgecheckt, ob das Mädchen etwas kann.«
»Was kann?«
»Na Küche, Haushalt und so.«
»Und der Mann, muss der auch im Haushalt was können?«, fragten wir weiter. Die Jungs in der Klasse lachten wieder los und erzählten sich gegenseitig, wie sich ihre Väter verhielten: »Meiner kommt nach Hause und knallt sich sofort aufs Sofa. Bei uns ist das so: Die Männer müssen Geld verdienen und die Frauen den Haushalt machen.«
Auf direkte Nachfrage, was sie später werden wolle, antwortete die ansonsten schweigsame türkische Schülerin knapp: »Hausfrau.«
Meine Kollegin berichtete von Musliminnen, die kein Kopftuch tragen und arbeiten gehen. »Kein Kopftuch? Das darf man als Muslima nicht!«, intervenierte der Syrer mit Papa in Saudi-Arabien lauthals.
Kompetenz
Am dritten Tag erhielt ich von der Schulleitung meinen Stundenplan und erblickte darauf das Fach Gesellschaftslehre (Geschichte/Politik). Um zu wissen, was in welchem Jahrgang zu lehren sei, lud ich mir auf der Homepage der Schulbehörde den entsprechenden Lehrplan herunter und verschwendete Zeit darauf, in ihn hineinzulesen.
Es ist nicht so richtig klar, ob dieser Lehrplan noch ernst gemeint oder schon eine Karikatur jener Beschwörungstänze ist, die in den Schulbehörden und Pädagogikhochschulen seit geraumer Zeit rund um das Wort der Kompetenz dargebracht und immer bizarrer werden. Ich bemühte die Suchfunktion. Auf 62 nicht gerade dicht beschriebenen Seiten fand sich der Wortstamm 194-mal. In allerlei Verbindungen, die die Autoren – allem Anschein nach Nominalstilisten mit Kompositakompetenz – zu bilden in der Lage waren: »Methodenkompetenz«, »Kompetenzerwartungen«, »soziale Kompetenzen«, »Urteilskompetenzen«, »gesellschaftswissenschaftliche Kompetenzen«, »Sachkompetenzen«, »Kompetenzentwicklung«, »Handlungskompetenzen«, »alltagssprachliche Kompetenzen«, »historisch-politische Kompetenzen«, »vertiefte Kompetenz«, »Kompetenzbereiche« und »vernetzte Kompetenzen«. Tatsächlich um Gesellschaft, Geschichte und Politik (im Lehrplan »Inhaltsfelder« genannt) geht es nur ganz