»Die Schule«, erklärte der zweite Stationsvorsteher.
»Die Schule?«, fragte die Familie Tini im Chor zurück. Rinaldo drehte den Türknauf und zeigte ihnen ein Zimmer mit drei Zweierpulten und einer aufgebockten Tafel.
»Die Schule. Hierher kommen alle Kinder aus dem Tal. Bis nach Gattaia ist es zu weit.«
»In welcher Klasse sind sie denn?«, fragte Giovannino.
»In allen«, antwortete der zweite Stationsvorsteher seelenruhig. »Es sind fünf Kinder, und jedes ist in einer anderen Klasse. Aber es gibt nur einen Lehrer.«
Sofort ergriff Giovannino Tini die Gelegenheit: »Von heute an nicht nur einen. Meine Frau ist Lehrerin.«
Die unvermutete Aussicht, als Lehrerin zu arbeiten, erschien Lucia Assirelli wie ein schüchternes gutes Vorzeichen. Denn sie unterrichtete gern, und es war ein harter Verzicht gewesen, eine Entscheidung aus Liebe. Sie sagte nicht ja und nicht nein, weil sie an das Kind dachte, das sie erwartete, und an die daraus erwachsenden Pflichten. Sie sagte nicht ja und nicht nein, weil sie um ihren unbefriedigten Wunsch wusste und wie wenig Überredungskunst nötig sein würde, damit sie nachgab.
»Signora, Signor Capostazione … Es ist Mittagszeit, wenn Ihr mit mir essen möchtet … Ihr auch, Sebastiano, nur keine Umstände.«
»Wäre es nicht besser, erst unsere Sachen reinzubringen?«, wandte Giovannino Tini ein. Der zweite Stationsvorsteher verhehlte seine Verwunderung nicht. Man hatte ihm erzählt, dass die Leute im Flachland es immer eilig hatten, immerzu rannten, und da er mit ihnen arbeiten musste, schien es angebracht, sofort eine entsprechende Botschaft auszusenden, denn seit jeher passte sich an, wer hierherkam, nicht umgekehrt.
»Die stiehlt niemand, und außerdem wird es erst spät in der Nacht regnen.«
Jetzt war es Giovannino Tini, der sein Erstaunen nicht verbarg. Er ging zum Fenster, hob die Augen zum kristallklaren Himmel ohne das geringste Anzeichen von Wolken.
»Wie könnt Ihr sicher sein, dass es heute Nacht regnen wird?«
Rinaldo hatte Mühe, den bekundeten Zweifel, ja, den Sinn der Frage zu verstehen. Es war, als hätte man ihn gefragt, warum er atmete. Dann fiel ihm wieder ein, dass diese Leute aus dem Flachland kamen, aus den Städten, und schwerlich wissen konnten, was es bedeutete, dass die Luft zu still stand, ohne jeden Windhauch, dass die Eberwurz mit unmerklichen Bewegungen ihre faserigen Blütenblätter einzog, dass der Rauch der Lokomotive sich flach ausbreitete und nicht als Säule hochstieg, dass die Schwalben tiefer flogen. Der zweite Stationsvorsteher Cenci Rinaldo sagte sich, dass ein Anflug seiner Erfahrenheit hier nicht fehl am Platze war, und bot eine bewusst kindliche Antwort.
»Weil ich es weiß.«
Ein leises, gleichmäßiges Klingeln untermalte seine Worte und hörte nicht auf. Der zweite Stationsvorsteher schlug sich mit der typischen Geste der Erinnerung an etwas Wichtiges gegen die Stirn.
»Ich habe die Durchfahrt vergessen, Madonnina!«, und schickte sich an, eilig die Treppe hinunterzulaufen. Doch Giovannino hält ihn fest, überholt ihn.
»Halt! Ich bin der Stationsvorsteher …«, ruft er energisch und läuft selbst nach unten, geht auf den Bahnsteig, nimmt den alten Lederkoffer, öffnet ihn und holt eine schwarze Uniformjacke mit dem glänzenden Monogramm FS an den Kragenaufschlägen heraus, dann eine Fliege, einen roten Zylinderhut mit Zierkordel, dem geflügelten Rad und den goldenen Tressen, und innerhalb einer Minute ist Giovannino fertig angezogen – gerade noch rechtzeitig, denn das Tal erfüllt nun zunächst ein lautes Schnaufen, dann ein bisschen schwärzlicher Rauch, und der erste Zug hält kreischend vor der Signalscheibe des Bahnhofsvorstehers Tini.
Aus den drei Wagen dritter Klasse steigt nur eine Frau aus.
Gebeugt und schmal wie eine Sichel, das Gesicht hinter dem schwarzen Tuch unerkennbar, ein Weidenkorb mit Eiern und einer Stange toskanisches Brot, ihr Rock schleift fast über den Boden. Sie schenkt dem Stationsvorsteher, der stolz seine neue Uniform präsentiert, keinerlei Beachtung und zeigt sich nicht interessiert an dem aufgestapelten Hausrat, nicht einmal an den Fahrrädern, sondern schlägt den parallel zum Viadukt laufenden Pfad ein und verschwindet in der Vegetation. Giovannino, der wenigstens einen Gruß erwartet hatte und bereit war, ihn zu erwidern, bleibt enttäuscht zurück, blickt auf die Uhr, ohne die Abfahrtszeit zu kennen, schwenkt die Signalscheibe im regelmäßigen Rhythmus, den man ihn gelehrt hat, bläst in seine kleine Pfeife, und der Zug fährt weiter in Richtung Romagna, langsam, dampfend, erhitzt von der Bergauffahrt, und wird vom Eingang des Tunnels verschluckt.
»Das ist die Witwe Fanciullacci«, erklärt Rinaldo, der Giovanninos Enttäuschung bemerkt hat. »Jeden Dienstag bringt sie ihrem Mann in Ronta Blumen. Sie spricht mit niemandem. Wundert Euch darum nicht.«
Das Mittagessen stimmt Lucia wieder versöhnlich, sie fühlt sich schon etwas heimischer.
Der zweite Stationsvorsteher hatte unbekannte Gerichte mit ebenso unbekanntem Geschmack zubereitet. Tagliatelle mit Kastanienbrei zum Beispiel oder eine flache Torte aus Kastanienmehl, die Lucia »castagnaccio«, Cenci Rinaldo aber »pattona« nennt. Lucia Assirelli ist nicht wählerisch beim Essen, sie probiert neugierig, möchte wissen und informiert sich, wie dieses und jenes zubereitet wird, welche Zutaten in diesem und jenem sind. Auch Pipito, der bei ihnen in der Küche sein darf, riecht vorsichtig an diesen unbekannten Happen, blickt seine Besitzer fragend an, dann entschließt er sich, und es ist ein einziges Maullecken.
Giovannino isst mit Appetit, insgeheim erleichtert zu sehen, dass die Anspannung seiner Frau nachlässt, ihre Enttäuschung über diesen abgeschiedenen, einsam gelegenen Ort weicht. Mit der Zeit würde sie sich anpassen, überlegte er, das Kind würde neue Aufgaben mit sich bringen, und auch die Schule würde sie in Anspruch nehmen, denn er hatte bemerkt, wie anziehend der Gedanke für sie war, er kannte die Wünsche seiner Lucia: Für ihr Kind und für Kinder allgemein würde sie alles tun.
Daran, wie sie saßen, worauf sie saßen, erkannten sie das Junggesellenleben des zweiten Stationsvorstehers. Er hatte schon Mühe gehabt, vier Stühle zu finden, nun gut, dann passten sie eben nicht zueinander, und einen musste er sogar aus dem Wartesaal holen. Neben drei Tellern guten Geschirrs gab es einen vom häufigen Waschen angestoßenen Teller, während die Gläser miteinander um das sonderbarste Aussehen wetteiferten. Aber als Koch machte Rinaldo sich nicht schlecht, und der Wein floss angenehm durch die Kehle, ganz ohne Säure. Unangenehm waren allein die Fliegen, lästig und zahlreich, obwohl der Briefträger die Klatsche zückte und spiralförmiges Fliegenpapier von der Decke baumelte.
»Ihr habt ein Fliegennetz im Schlafzimmer. Das hat der vorherige Stationsvorsteher hinterlassen, Ihr werdet gut schlafen.«
»Wohin ist der alte Bahnhofsvorsteher gegangen?«, erkundigte sich Giovannino.
»Nach Florenz, an die Station Rifredi.«
»Dann hat er Karriere gemacht …«, und er warf seiner Frau einen Blick zu, als wollte er sagen: Siehst du? Ein kleines Opfer und dann … Lucia bemerkte den Blick nicht, ihre Hand lag wie üblich schützend auf dem Bauch, der Kopf war in Gedanken und leichter Müdigkeit versunken.
Sebastiano aß mit der Briefträgermütze im Nacken, aber sicher nicht, weil er unerzogen war – in der kleinen Küche gab es keinen Platz, um sie abzulegen. Er aß recht still, das musste sein Charakter sein, ehrerbietig und wortkarg. Giovannino betrachtete ihn und konnte ihm kein Alter zuordnen, er mochte ein junger Mann sein, der alt geboren wurde, oder ein Alter, der sich in seiner Jugend nicht aufgezehrt hatte. Wie auch immer, Giovannino vermutete, dass er – am Geburtenregister gemessen – der jüngste der drei Männer am Tisch war, und sich in gewisser Weise als ihr Vorgesetzter zu wissen, weckte seine charakterliche Unsicherheit.
Lucia bemerkte, dass die Stille des Tals doch nicht so geräuschlos war. Sie hörte ein unbestimmtes, rhythmisches Brummen, das gedämpfte Rasseln von Eisen, Anzeichen eines unmerklichen Lebens, wie das Wimmeln von Ameisen, das man staunend entdeckt, wenn man sich das Erdreich von nahem ansieht.
»Was sind das für Geräusche?«
»Der