Paolo Casadio
Der Junge, der an das Glück glaubte
Roman
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
Hoffmann und Campe
Dieses Buch ist ein Werk der Phantasie. Die geschilderten Personen und Situationen entstammen der Einbildungskraft des Autors und sollen der Erzählung Wahrhaftigkeit verleihen. Jede Ähnlichkeit mit Ereignissen oder Orten, mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig.
Auf das Jenseits
nimmt die Welt nicht die geringste Rücksicht.
Darum kommt die Welt so weit
wie die Füße sie tragen.
V. van Gogh
Oder du bist nur unter den Lebenden,
weil ich an dich denke.
G. Pascoli
Für Barbara
Prolog
Es war ein unschuldiges Tal, bewohnt von friedlichen, genügsamen Familien. Ein Tal, wo nichts dem Zufall überlassen war und jedes Geschehen, jeder Stein und jeder Mensch seine Bedeutung und seine Geschichte hatte. Auch seine Glücksmomente.
Im Glück gibt es ein Versprechen auf Leid, das verlässlich eingelöst wird. Es heißt Schicksal.
Als die Familie Tini im Juni 1935 an der Bahnstation aus rosa Sandstein ankam, empfand sie die Unschuld dieses Tals wie eine Garantie für ihre eigene Sicherheit, und so war es lange Zeit.
Unterdessen löste sich die alte Welt auf, die Regeln zerbrachen im Namen einer neuen, gefährlichen Ordnung, die die Menschen in zwei Kategorien einteilte: jene, die auf der richtigen, und jene, die auf der falschen Seite geboren waren.
Eines Winterabends kamen Menschen, die auf der falschen Seite geboren waren, in das unschuldige Tal. Sie kamen auf eine Weise dort an, die man für vergessen gehalten hatte.
»Wir stecken an einer Bahnstation im Gebirge fest, sie heißt Fornello«, versuchten sie mitzuteilen, aber das war zwecklos. Diese Menschen waren auf einer Reise ins Leere, ins Nichts, an Orte, deren wahre Ausmaße niemand begreifen konnte.
Wer dagegen zur richtigen Seite gehörte, lief keine Gefahr, vorausgesetzt, er sah nichts, wusste nichts, lehnte sich nicht auf.
Doch die Gefühle lassen sich – wie die Geschehnisse – nicht kontrollieren, damit wird das Schicksal unvorhersehbar. Die Unschuld ist verloren, auch die der Kinder. Sie würden nie mehr zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehren, weil es keine Abreise und keine Ankunft gibt. Es gibt nur die Reise und jemanden, der dich an der Hand hält.
Und jemanden, der an sie erinnern würde.
Als sie aus dem Schnee wieder hervorkamen, wusste Lucia, dass der Tag zur Nacht geworden war und die Zeit zu einer alten Wunde, und so sollte es bis zum Ende sein. Nichts und niemand würde die Bedeutung des Lebens erneuern können.
Die Ärzte begegneten der plötzlichen Finsternis mit dem Dunkel der Medikamente.
Doch das Licht kehrte nicht zurück.
Lucia blieb so lange am Rand der Ewigkeit, wie die Ewigkeit selbst währte, und als sie deren Schwelle überschritt, wurde der Tag wieder Tag.
Und sie war nicht mehr allein.
Romeo Tini
Romeo Tini kam am Morgen des 18. Juni 1935 an der Bahnstation Fornello an. Vor etwa sechs Monaten war er gezeugt worden. Wenn es nach dem Willen seines Vaters Giovanni, von allen Giovannino genannt, gegangen wäre, hätte er in Faenza zur Welt kommen müssen, im Haus seiner Familie, wo seit über hundert Jahren alle Tini geboren wurden und wo sie normalerweise weiterhin zur Welt kommen sollten.
Doch das Telegramm der Eisenbahngesellschaft ist ein Befehl und lässt keinen Spielraum: »Unverzüglicher Dienstantritt.« Das Adjektiv ist unterstrichen. Wenn er nicht Folge leistet, wird er auf die Stelle des Bahnhofsvorstehers verzichten und bis zur nächsten Stellenausschreibung weiterhin als Bahnwärter arbeiten müssen.
Der Gehaltsunterschied, überlegt Giovannino, ist zu groß und rechtfertigt ein solches Opfer. Also gehorcht er und reist ab mit schwangerer Frau, einem schweigsamen Hund unbestimmbarer Rasse namens Pipito, zwei Fahrrädern und dem Hausrat. Alle und alles in einem schmutzig grünen Gepäckwaggon, der von einer Rangierlok Modell 875 gezogen wird, einer plumpen schwarzen Raupe, deren Pleuelstangen unter einer verheerenden Arthritis leiden.
Giovannino Tini wusste noch nicht, dass sein Sohn Romeo heißen würde. Er hatte vor, die Familientradition seines Vaters, seiner Großeltern und so weiter fortzusetzen: Giovannino hieß der Vater seines Vaters, und der Vater des Großvaters hieß Anselmo, also würde er diesem Erstgeborenen – denn ein Junge musste es sein – den Namen Anselmo geben. So hatte man es bisher gehalten, so würde man es immer halten, denn Traditionen stützen das Morgen.
Lucia Assirelli, die Gattin des zukünftigen Bahnhofsvorstehers, war sechs Jahre jünger als er – also einundzwanzig – und hatte das eigensinnige Naturell der Städterin. Sie besaß noch andere interessante Eigenschaften von jener Art, die einen Mann aus der Bahn werfen können. Mit ihren runden Formen, der weißen straffen Haut, den schmalen Fesseln einer Tänzerin und einem festen Busen erinnerte sie unweigerlich an die provokanten Damen des Zeichners Gino Boccasile auf den Titelseiten der Wochenillustrierten »Grandi Firme«, die die Phantasie der Italiener beflügelten. Und eine Tänzerin war sie wirklich, sie versäumte keines der Feste, wo Musik gespielt wurde, denn sie liebte es jung zu sein, sie liebte das Leben, sie ließ sich gerne umschmeicheln und begehren. Doch das Spiel – denn es war ein Spiel – sollte enden, und nichts für ungut: Denn Lucia war in ihren Giovannino verliebt, sie glaubte fest an diese Ehe zwischen einer jungen Frau aus dem Kleinbürgertum von Faenza und dem Sohn eines Eisenbahners und hatte eine genaue Vorstellung von der Gegenwart und der Zukunft. Wer sich eine Zukunft sichern will, muss sie manchmal dazu ermuntern, und in dieser Familie hatte sie die Hosen an.
Was Giovannino betraf, so arbeitete er. Er arbeitete und lernte für den Wettbewerb um diese Stelle, die ihm einen Karrieresprung ermöglichen würde, den Wechsel von einem abgelegenen Bahnwärterhäuschen im Süden der Emilia-Romagna zu einer richtigen Bahnstation, deren Vorsteher er sein würde. Lucia wiederum, die ihren Mann und die Zukunft ermuntern wollte, hatte unzählige Male empfohlen: »Hol dir diese Wanze.«
Denn die Zeiten waren, wie sie waren, und sich verdient zu machen, tüchtig bei der Arbeit zu sein, sich als vertrauenswürdig und fachkundig zu erweisen, nützte wenig. Ein Vorankommen, das wussten alle, war den Mitgliedern des Partito Nazionale Fascista vorbehalten, denen, die dieses ovale Parteiabzeichen, das aussah wie eine Wanze, im Knopfloch der Eisenbahneruniform vorzeigen konnten.
So erfolgte der Eintritt in die Partei. Ein freilich nicht ganz überzeugter Eintritt, denn Giovannino Tini kam aus einer Familie von Sozialisten, die auch jetzt Sozialisten blieben: Keiner von ihnen dachte auch nur im Traum daran, die Farbe zu wechseln, um sich dem unbesiegbaren Duce anzupassen.
Und so erfolgte auch die Beförderung. Eine angesichts des verspäteten Parteieintritts ebenfalls nicht ganz überzeugte Beförderung, die überdies nach Verspottung aussah.
Fornello.
Die eingleisige Faenza-Linie oder auch der Streckenabschnitt Faenza-Florenz. Eine hundertundeinen Kilometer lange Strecke aus gewundenen Überführungen und Tunneln, Kurven und Gegenkurven, eine Strecke für Güterzüge mit entlegenen Stationen in den Schluchten und Falten dieses Gebirgszugs aus Kalksandstein, dem toskanisch-romagnolischen Apennin.
Fornello.
Dieser unbekannte Ortsname löste bei Lucia Assirelli eine leise Unruhe aus. Sie nahm das Erdkundebuch, mit dem sie für ihr Lehrerinnenexamen gelernt hatte, suchte die Landkarte der Emilia-Romagna und folgte mit dem Zeigefinger dem geschlängelten Lauf der Eisenbahnlinie. Lange kniff sie die blaugrünen Augen zusammen,