Der Verleger, der die Anonymität seines Autors nicht preisgab, wurde zu 600 Mark Geldstrafe und den Gerichtskosten verurteilt. Tatsächlich aber wurde dieser Betrag von Sagitta gezahlt – der in Wirklichkeit der deutsche Schriftsteller John Henry Mackay war.
Mackay schrieb seinem amerikanischen Freund Benjamin R. Tucker, die Gerichtskosten hätten um die 1000 Mark betragen, und die ganze Geschichte hätte ihn insgesamt etwa 6300 Mark gekostet. Mehr jedoch als um das Geld ging es Mackay darum, daß er seinen Kampf um die Gleichberechtigung der Liebe zwischen Männern und Knaben verloren hatte. In seiner Erinnerung war jener Tag deshalb der deprimierendste seines Lebens.“
Liebster Reinhard, ich bin gespannt auf Deine weiteren Ausführungen zu „Deutschland und die Anarchie“.
In Liebe
Deine M.
Ausführungen zu Fußnote 61:
In Le Monde diplomatique vom 16.01.2009 (deutsche Ausgabe) ist zu lesen: Edward Castleton: Pierre-Joseph Proudhon, Anarchist. Hommage an einen radikalen Denker zu seinem 200. Geburtstag:
„Was ist vom Denken Pierre-Joseph Proudhons geblieben, zweihundert Jahre nach seiner Geburt am 15. Januar 1809? Der Satz ´Eigentum ist Diebstahl´, aber das war es dann auch schon. Proudhon, von Sainte-Beuve [Anm.: franz. Literaturkritiker des 19. Jhd., selbst Saint-Simonist – s. zuvor –, u.a. Professor für lateinische Poesie und als solcher, wegen seiner aufrührerischen Reden, alsbald mit einem Leseverbot belegt; von ihm, der während eines Duells keinesfalls auf einen Regenschirm verzichten wollte, stammt der legendäre Satz: Lieber tot als nass; Proudhon, von Sainte-Beuve] als bedeutendster Prosaist seiner Zeit bezeichnet, fristet heute ein kümmerliches Dasein in anarchistischen Buchläden und auf dem ein oder anderen Bücherregal eines Gelehrten.
Während sein Werk von den großen Verlagen in Frankreich und Deutschland nicht beachtet wird, sind seine intellektuellen und literarischen Zeitgenossen wie Karl Marx, ..., Victor Hugo oder Alexis de Tocqueville auf dem Buchmarkt sehr wohl präsent …
Die Intellektuellen und Arbeiter, die Proudhon vor dem Ersten Weltkrieg noch schätzten, erklärten ihn nach der Oktoberrevolution zum Anti-Marx. Die radikalen Pazifisten, die für eine ´Gesellschaft der Nationen´ eintraten, bedienten sich bei seinen föderalistischen Ideen. Die Anhänger der nazifreundlichen Vichy-Regierung dagegen griffen auf der Suche nach Legitimationsquellen gewisse ständische Elemente seines Denkens auf ...
Das Ansehen, das der Denker in fortschrittlichen Kreisen einst genoss, hat sich von seiner Inanspruchnahme durch das Vichy-Regime nicht wieder erholt. Zudem war die Linke im Frankreich der Nachkriegszeit intellektuell gänzlich vom Marxismus in Beschlag genommen; andere Quellen der reichen sozialen Reflexion des 19. Jahrhunderts blieben außen vor. Damit war auch Proudhon, der einen Mittelweg zwischen Privateigentum (der exklusiven Aneignung von Gütern durch Privatpersonen) und Kommunismus (Aneignung und egalitäre Verteilung der Güter der Privatpersonen durch den Staat) gesucht hatte, der Vergessenheit anheim gegeben …
Was den demokratischen Charakter des allgemeinen Wahlrechts betraf, war Proudhon pessimistisch ... In den letzten Schriften vor seinem Tod am 19. Januar 1865 erklärte er selbst die Kandidatur proletarischer Abgeordneter für nutzlos. Die Arbeiterklasse müsse vielmehr mit den Institutionen der Bourgeoisie brechen und Genossenschaften gründen, die auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit (Mutualismus) beruhen und diese Gegenseitigkeit institutionalisieren – kurz gesagt, sie müsse eine ´Arbeiterdemokratie´ erfinden.“
Ausführungen zu Fußnote 62:
„Pierre Joseph Proudhon war einer der wichtigsten Vertreter des Mutualismus´; er forderte, die Gesellschaft genossenschaftlich und auf der Grundlage von Gruppen freier Individuen zu organisieren. Grundgüter seien auf der Basis von Arbeitswerten zu tauschen; zur Vergabe von Krediten seien ´Volksbanken´ zu errichten.“
Zwar waren seine Ideen in der „alten“ (namentlich in Frankreich und Großbritannien) wie in der „neuen Welt“ (also in Amerika) durchaus verbreitet, aber nicht fundamental-kritisch und (dadurch) wirkmächtig genug, um die kapitalistische Wirtschaftsordnung grundlegend und nachhaltig zu hinterfragen, insbesondere auch, weil (marxsche) Kategorien wie der Interessengegensatz von Arbeit und Kapital und das Klassen-System nicht (hinreichend) berücksichtigt wurden.
Letztlich postulierte sein (ökonomischer) Mutualismus ein „Genossenschaftswesen ohne Bürokratie, Kapitalismus und Profit“ (Kleiner Leitfaden zum Anarchismus, http://www.anarchismus.de/allgemeines/a-leitfaden.htm, abgerufen am 12.10. 2019).
Ausführungen zu Fußnote 65:
Mackay, John Henry: Die Anarchisten: Kulturgemälde aus dem Ende des 19. Jhd. Verlag der Neuen Gesellschaft, Berlin-Fichtenau, Neue Ausgabe, 5. Aufl., 1924, Kapitel 1, Einleitung:
„Auf keinem Gebiet des sozialen Lebens herrscht heute eine heillosere Verworrenheit, eine naivere Oberflächlichkeit, eine gefahdrohendere Unkenntniß, als auf dem des Anarchismus. Die Aussprache des Wortes schon ist wie das Schwenken eines rothen Tuches – in blinder Wuth stürzen die Meisten auf dasselbe los, ohne sich Zeit zu ruhiger Prüfung und Ueberlegung zu lassen. Sie werden auch dieses Werk zerfetzen, ohne es verstanden zu haben.
Das neunzehnte Jahrhundert hat die Idee der Anarchie geboren. In seinen vierziger Jahren wurde der Grenzstein zwischen der alten Welt der Knechtschaft und der neuen der Freiheit gesetzt. Denn es war in diesem Jahrzehnt, daß P. J. Proudhon die titanische Arbeit seines Lebens mit: ´Qu'est-ce que la propriété?´ (1840) begann und Max Stirner sein unsterbliches Werk: ´Der Einzige und sein Eigenthum´ (1845) schrieb.
Sie konnte vergraben werden unter dem Staube zeitweiligen Rückschrittes der Kultur. Aber sie ist unvergänglich …
Seit zehn Jahren kämpft in Boston, Mass., mein Freund Benj. R. Tucker mit der unbesieglichen Waffe seiner ´Liberty´ für Anarchie in der neuen Welt. Oft habe ich in den einsamen Stunden meiner Kämpfe meinen Blick auf das funkelnde Licht gerichtet, das von dort aus die Nächte zu erhellen beginnt …
Als ich vor nun drei Jahren die Gedichte meines ´Sturm´ der Öffentlichkeit übergab, begrüßten mich freundliche Stimmen als den ´ersten Sänger der Anarchie´.
Ich bin stolz auf diesen Namen.“
Ausführungen zu Fußnote 70:
„Sie agitieren bei wilden Streiks, besetzen Wohnungen, stürmen Rathäuser, und einige berauben Banken. Ihr Ziel ist eine brüderliche Gesellschaft, eine idyllische Welt. Sie nennen sich Maoisten, Trotzkisten oder Kommunisten. Man nennt sie Chaoten. Sie sind Anarchisten. Aber sie faszinieren die Jugend und infizieren Parteien.
Die Richter sind ´Schweine´ (Horst Mahler) oder ´fette Ratten´ (Andreas Baader). Des Richters böse Pflicht ist, laut Gudrun Ensslin, Menschen ´zu vernichten´ oder, laut Manfred Grashof, sie ´fertigzumachen´. Mit dem Gesetz sollen die Richter sich ´den Arsch wischen´. Der Anblick von Polizisten ist für Heinrich Jansen nicht zu ertragen. weil er ´sonst kotzen müßte´. Das am häufigsten von Baader verwendete Wort ist ´Scheiße´. Mit seiner zweiten Lieblingsvokabel ´ungeheuer´ ergibt sich eine Art von anarchistischer General-Formel für die ´Gesellschaft von heute: ungeheure Scheiße´. Die Schmutz-Sprache der Anarchisten beschreibt die Gesellschaft als durch und durch böse und entfremdet – eben als beschissen. Sie bezieht ihre Rechtfertigung aus der Vorstellung, es gäbe eine andere, entweder vergangene oder zukünftige Gesellschaftsordnung, die durch und durch gut ist – eine Welt des völligen Friedens, der völligen Freiheit, der völligen Gerechtigkeit und des gleichen Glücks für alle …
Freilich waren nicht alle Anarchisten so optimistisch wie die CNT [„´Das Verbrechen ist mithin für fast alle Anarchisten eine ´Krankheit´ oder die ´logische Folge der sozialen Ungerechtigkeit´, wie es die anarchistische Confederación National del Trabajo (CNT) 1936 ausdrückte“: a.a.O.], die hoffte, das Verbrechen zugleich mit der Armut abschaffen zu können. Der bekannteste amerikanische