Die Polizei hatte Ermittlungen eingeleitet und sogar einen Verdächtigen festgenommen. Doch der vermeintliche Täter, ein debiler Junge aus dem Dorf, war kurz danach mangels Beweisen aus der Haft entlassen worden. Das einzige Indiz, das damals für eine Täterschaft sprach, war ein Kettchen, das zweifelsfrei einem der Mädchen gehörte und das der junge Mann – es sollte sich um den Sohn eines Apothekers gehandelt haben – in seinem Zimmer versteckt hatte und wie ein Schatz behütete.
Justin Belfort war Journalist. Das hannoversche Magazin Direkt hatte ihn wegen seiner im Volontariat überzeugenden Leistungen bei Ausbildungsabschluss fest angestellt, und inzwischen war er bekannt wegen seiner mehrseitigen, gut recherchierten Reportagen. Vor einigen Tagen hatte eine neue Entwicklung im Fall dieser beiden verschwundenen Mädchen ihn zu dem Entschluss gebracht, über ungeklärte Fälle vermisster Verbrechensopfer zu berichten, aber er hätte sich niemals träumen lassen, wie nahe ihm diese Reportage gehen würde. Die beiden Radfahrerinnen waren im Spätsommer des Jahres 1999 auf ihrem Trip von Hannover an die Nordseeküste spurlos verschwunden und nach bisherigen Erkenntnissen wohl einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Besonders tragisch fand er, dass die Reisekosten ein Geschenk der Eltern zum Abitur gewesen waren. Die Spur der beiden hatte sich damals in dem kleinen Ort am Steinhuder Meer, zwischen Neustadt und Mardorf, verloren. Die Fahrräder hatte man knapp einen Kilometer vom Ort entfernt gefunden
Damals war der Fall durch alle Gazetten gegangen, Tageszeitungen, Magazine, sogar das Fernsehen hatte in der Landesschau darüber berichtet. Nach der Verhaftung des debilen Tatverdächtigen, bei dem das Kettchen gefunden worden war, waren die Diskussionen über den Umgang mit geistig nicht zurechnungsfähigen Tätern aufgeflammt. Größen aus Politik und Justiz hatten Stellung bezogen. Doch manchen, die sich vehement für eine Verschärfung des Unterbringungsgesetzes eingesetzt hatten, war sehr schnell der Wind aus den Segeln genommen worden, als Tage später der Rucksack eines Opfers auf einem knapp vierzig Kilometer entfernten Autobahnrastplatz an der A 7 unweit der Abfahrt Schwarmstedt aufgefunden worden war. Ein Unbekannter hatte am Rucksack eine DNA-Spur hinterlassen. Damit stürzte das fragile Konstrukt aus Indizien und Mutmaßungen gegen den Sohn des Apothekers in sich zusammen und er wurde wieder auf freien Fuß gesetzt.
Vor wenigen Tagen war dann unweit von Flensburg eine abgemagerte und schwer verletzte junge Frau aufgefunden worden, die vermutlich aus einem fahrenden Auto gestoßen worden war. Sie lag im Koma und die Ärzte befürchteten angesichts ihrer Verletzungen das Schlimmste. Sie hatte keinerlei Papiere bei sich und weder die Überprüfung der Vermisstenfälle über das Bundeskriminalamt noch überregionale Presseartikel hatten zur Identifikation beitragen können. Erst eine DNA-Analyse hatte die überraschende Wende gebracht. Die junge Frau, die an der B 200 unweit von Wassersleben mehr tot als lebendig aufgegriffen worden war, war jene Tanja Schaffrath aus Minden, die zusammen mit ihrer Freundin vor drei Jahren am Steinhuder Meer auf einer Radtour spurlos verschwunden war.
Doch wo war Melanie, ihre damalige Begleiterin, geblieben? War sie vielleicht sogar noch am Leben? Was war bei diesem kleinen Ort namens Tennweide am Steinhuder Meer vor drei Jahren wirklich passiert?
Um das herauszufinden, war Justin Belfort ans Steinhuder Meer gefahren und er würde nicht wieder abreisen, bevor er die Antworten gefunden hatte.
Erinnerung
1
Sande bei Wilhelmshaven
»Ich weiß nicht, ob ich es ohne diese kleine Erbschaft geschafft hätte«, sagte Martin Trevisan. »Ich verstehe auch gar nicht, wie Onkel Herbert darauf gekommen ist, mir das Geld zu vermachen. Ich hatte überhaupt keinen Kontakt mehr zu ihm. Es war mir beinahe peinlich, als ich beim Notar in Cuxhaven saß und bei Gott, wenn ich das Geld für Paulas Behandlung nicht so dringend gebraucht hätte, dann weiß ich nicht, ob ich das Erbe überhaupt angetreten hätte.«
»Dann wäre es an den Staat gefallen und niemand hätte mehr etwas davon gehabt«, antwortete Peter Koch, Trevisans Freund aus alten Tagen, den er seit beinahe vier Monaten nicht mehr gesehen hatte.
»Der Staat … wenn ich sehe, wie er sich um seine Straftäter sorgt und wie er ihre Opfer behandelt, dann weiß ich nicht, wo hier die Gerechtigkeit bleibt«, sinnierte Trevisan bissig. »Ich bin froh, dass ich das Geld geerbt habe, sonst wüsste ich nicht, wie ich die Arztrechnungen bezahlen sollte. Außerdem hat er sich am Ende doch noch einen ganzen schönen Batzen geholt. Erbschaftssteuer nennt er diese halblegale Dieberei.«
Martin Trevisan hatte sich mit Peter Koch in der Scharfen Ecke in Sande getroffen, um über die alten Zeiten zu reden. Am heutigen Tage hatte er sein kleines Reihenhaus in Sande endgültig verkauft, denn dorthin würde er zusammen mit Paula ohnehin nie wieder zurückkehren. Nach seinem letzten Fall, bei dem seine Tochter in die Fänge eines Sektenführers geraten war, war nichts mehr so, wie es einmal war.
Die physischen Wunden, die er und seine Tochter erlitten hatten, waren schnell verheilt, doch die Leiden der Seele hatten sich erst Wochen später bemerkbar gemacht. Paula hatte sich mehr und mehr zurückgezogen und er hatte seine ganze Kraft und Überredungskunst aufbieten müssen, damit sie überhaupt noch zur Schule ging.
Angela hatte ihm damals geraten, mit Paula zu einem Psychologen zu gehen. Zuerst hatte er sich dagegen gesträubt, hatte gedacht, dass die Abkapselung seiner Tochter nur eine vorübergehende Episode bleiben würde. Doch als Paula immer öfter in der Nacht von Alpträumen geplagt um Hilfe schrie, ahnte er, dass er falsch lag. Er bat Angela, zu ihm zu ziehen, sich um ihn und Paula zu kümmern, doch sein Bitten war vergebens, Angela hatte nur ihre Karriere im Kopf. So zerbrach seine Beziehung und auch ihn überforderte die Situation immer mehr.
Als er schließlich mit Paula in der psychiatrischen Tagesklinik vorsprach, stellten die Ärzte bei ihr eine posttraumatische Belastungsstörung einhergehend mit Angstattacken und einer depressiven Grundstimmungen fest, die unbedingt eine umgehende Behandlung erforderlich machte. Trevisan war geschockt, wie sollte er sich als alleinerziehender Vater um seine kranke Tochter kümmern und auch noch seinen Beruf ausüben können? Als er mit Grit, seiner Ex-Frau, darüber sprach, musste er sich nur Vorhaltungen und Beschimpfungen anhören, die ihn zusätzlich belasteten. Er und seine Arbeit wären schuld daran, dass es Paula so schlecht ginge. Trevisan legte einfach auf und kämpfte.
Es war nicht einfach für ihn. Die Krankenversicherung stellte sich quer, zahlte lediglich eine ambulante Therapie, und Tante Klara, deren Ehemann einen Schlaganfall erlitten hatte und die ihn zu Hause pflegte, war nicht mehr in der Lage, ihnen zu helfen. Zu Anfang versuchte er es mit einer Pflegerin, doch Paula ließ keine Fremde an sich heran. Glücklicherweise fanden sie einen Heilpraktiker, der mit unkonventionellen Methoden große Erfolge aufzuweisen hatte und der Zugang zu Paula fand. Trevisan reduzierte seine Arbeitszeit, um möglichst viel Zeit mit ihr zu Hause verbringen zu können, doch auch das war keine dauerhafte Lösung. Die Zuzahlungen zu Paulas Behandlung, die nicht von der Krankenkasse gedeckt war, fraßen sehr schnell seine Rücklagen auf.
An einem Donnerstag, vor mehr als einem halben Jahr, war Trevisan im Büro zusammengebrochen. Erst im Krankenhaus kam er wieder zu Bewusstsein. Organisch war er für sein Alter bei bester Gesundheit, doch auch sein Seelenleben war aus allen Fugen geraten. Burnout nannte man die Krankheit auf neudeutsch und die Ärzte rieten ihm, sein Leben neu einzurichten. Dazu kam, dass Paulas behandelnder Heilpraktiker empfahl, aus Sande wegzuziehen. Er sprach von einer Spezialklinik in Hannover, einer Institution, die an die Psychiatrie in Langenhagen angegliedert war und in der Kinder und Jugendliche untergebracht waren, die an den gleichen Symptomen litten wie Paula. Es war aufgebaut wie ein Internat und es fand sogar regulärer Unterricht statt, so dass Paula weiter an ihrem Abitur arbeiten könne.
Anfänglich stand Trevisan diesem Gedanken skeptisch gegenüber, doch nach dem er sich eingehend damit befasst hatte – er war zu dieser Zeit krankgeschrieben – freundete er sich mit dem Gedanken an, zumal die Klinik bei ihren Patienten mit ausgezeichneten Heilerfolgen aufwarten konnte. Einziges Manko an dieser Geschichte war, dass die Krankenkasse nur einen Teil der Behandlungskosten übernahm und er monatlich beinahe zweitausend Euro beisteuern musste.