»Aber ist das nicht eine Zumutung für die Familien der Vermissten?«, wandte Lisa ein. »Ich meine, da kommt doch alles wieder hoch und die alten Wunden werden erneut aufgerissen.«
»Denkst du, die Eltern kommen jemals über den Verlust ihrer Kinder hinweg?«, fragte Trevisan. »Glaub mir, es ist ein Schmerz, der ewig in dir bohrt. Solange du lebst, wirst du ihn nie vergessen. Und ich weiß, wovon ich rede.«
»Entschuldige, ich habe nicht daran gedacht.«
»An was hast du nicht gedacht?«
»Deine Tochter«, antwortete Lisa. »Ich weiß, was euch damals passiert ist und … und es tut mir leid.«
»Schon gut«, entgegnete Trevisan, ein kurzer Gedanke galt Paula, doch er wischte das Bild weg. Er wusste, es ging ihr gut und er brauchte jetzt alle Konzentration für diesen Fall. »Manchmal tut es auch gut, wenn man sich kümmert. Vergiss nicht, die Leichen wurden nie gefunden und jetzt taucht plötzlich eines der Mädchen wieder auf. Was, glaubst du, geht gerade in den Köpfen der Eltern von Melanie vor? Ich kann es dir sagen: Die Hölle ist für sie zurückgekehrt, viel schlimmer noch als zuvor, alles andere würde mich wundern. Vielleicht hilft es ihnen wenigstens ein klein wenig, wenn sie merken, dass wir das Schicksal der beiden nicht vergessen und abgeheftet haben.«
Lisa knabberte an einem Kugelschreiber. »Wenn ich daran denke, läuft es mir eiskalt den Rücken herunter. Vielleicht sitzt jetzt gerade ein Mädchen irgendwo in einem kalten Verlies, vergewaltigt und geschunden, und wartet darauf, dass wir ihr helfen.«
»Leider sind die Eltern von Tanja bei einem Autounfall ums Leben gekommen«, fuhr Trevisan fort. »Wenn sie jemals wieder auf die Beine kommt, dann wartet schon der nächste Schicksalsschlag auf sie. Also, machen wir uns an die Arbeit. Kümmere dich bitte um die Plakate, ich muss telefonieren.«
»So, mit wem denn?«
»Du bist ganz schön neugierig«, feixte Trevisan. Die jugendliche Unbekümmertheit seiner neuen Kollegin tat ihm gut. »Ich kenne da jemanden in Dänemark, der uns vielleicht bei Spur 156 weiterhelfen kann.«
Lisa warf ihren Stift auf den Schreibtisch. »Die Plakate … Din A4 oder Din A3?«
»Am besten beide Formate. Aber die Bilder müssen groß sein, ich will, dass sie mindestens siebzig Prozent des Plakats ausmachen.«
Lisa salutierte. »Aye, Käpt’n, wird gemacht.«
7
Rudolf Thiele, der Apotheker von Mardorf, zog den Vorhang des kleinen Fensters im Nebenraum zu und warf einen skeptischen Blick aus dem Fenster.
»Nehmen Sie Platz!«, forderte er Justin Belfort auf. »Ich werde Ihnen erzählen, wie es war und ich möchte, dass Sie sich ein Bild von meinem Sohn Sven machen können. Glauben Sie mir, diese Polizisten hatten überhaupt kein Interesse, den Fall zu lösen. Das war eine einzige Hexenjagd. Sie hatten ihn zum Sündenbock abgestempelt, weil er sich nicht wehren konnte.«
Thiele atmete tief ein. »Wissen Sie, in einem kleinen Dorf zu leben, ist nicht leicht, wenn man ein Außenseiter ist. Da verschwanden zwei Mädchen, das ist schlimm genug, die Behörden standen unter Druck und hatten nichts, rein gar nichts in der Hand. Da liegt es ja nahe, dass man sich das schwächste Opfer sucht und unter Mordverdacht stellt. Es ging sogar so weit, dass man mich verdächtigte, die Spuren des Verbrechens beseitigt zu haben. Es wurde nie ausgesprochen, aber ich wusste, was die Polizisten dachten. Allen voran unser Dorfpolizist, der war am schlimmsten. Er würde dem Sven diese Tat zutrauen, hat er behauptet. Dabei ist Sven der sanftmütigste und sensibelste Mensch, den ich kenne. Ich sage das nicht, weil er mein Sohn ist, ich sage es, weil es die Wahrheit ist.«
Justin Belfort hörte aufmerksam zu und machte sich Notizen auf seinem Block. »Ihr Sohn ist von Geburt an behindert?«
»Ja, er ist schwer intelligenzgemindert. Er ist jetzt zweiundzwanzig Jahre alt und hat den Verstand eines kleinen Kindes, aber er ist kein Ungeheuer.«
»Wie kam es, dass er sich an diesem Tag im Wald aufhielt, war er oft dort draußen?«
»Sven liebt die Natur und er weiß, dass er auf den Wegen bleiben und sich vom Moor fernhalten muss«, antwortete Thiele. »Wissen Sie, ich bin den ganzen Tag in der Apotheke und meine Frau war damals schwer krank. Sie ist vor zwei Jahren gestorben. Wir hatten jemanden, der auf ihn aufpasst, nur eben nicht rund um die Uhr. Aber wir konnten ihn doch nicht einfach einsperren. Er hat sich auch nie weiter als bis zum Bannsee von zu Hause entfernt. Er hat gewusst, dass wir das nicht wollen und er hat sich daran gehalten.«
»Das heißt, er war an diesem Tag im Wald?«
»Ich war nicht zu Hause, ich hatte zu tun. Aber ich sagte schon, er war viel da draußen unterwegs und wir hielten ihn auch nicht zurück.«
»Es wurde ein Kettchen bei ihm gefunden, das einem der Mädchen gehörte.«
»Es war ein Anhänger mit dem Symbol eines Schutzengels, Melanie war auf der Rückseite eingraviert. Die Eltern haben es erkannt. Aber Sven weiß nicht, woher er es hat. Er ist ein Sammler, er sammelt alles, was er auf dem Weg findet. Vom Kronkorken bis zu glitzernden Steinen. Vor allem, wenn es glänzt. Das sind seine Schätze, verstehen Sie. Ich habe einmal den Fehler begangen, als er mit zwei Kronkorken und einer verbeulten Getränkedose nach Hause kam, und ihm die Sachen weggenommen. Deswegen hat er alles vor mir versteckt. Wie er zu dem Kettchen kam, kann ich nicht sagen.«
»Ich denke, Ihr Sohn hat die Polizisten in den Wald geführt und gezeigt, wo er das Kettchen fand?«
»Sie haben ihn unter Druck gesetzt. Ich kenne meinen Sohn. Er hätte alles getan, was sie von ihm verlangten. Ich würde aber nicht darauf wetten, dass es tatsächlich die Stelle war, an der die Kette lag.«
»Hat man Sie jemals mit dem Vorwurf konfrontiert, an der Tat beteiligt gewesen zu sein? – Zumindest beim Verstecken der Opfer, denn dazu wäre Sven wohl alleine nicht in der Lage gewesen, oder?«
»Ich sagte doch, den Vorwurf selbst hat man nie ausgesprochen, immer nur angedeutet, aber er war deutlich zu spüren. Auch im Dorf hat man mich geschnitten, Sie glauben gar nicht, wie das ist.«
Rudolf Thiele schlug die Hände vor das Gesicht. Für einen kurzen Augenblick schwieg er, ehe er sich wieder aufraffte und weitererzählte. »Jahrelang leben Sie mit den Menschen in einem Ort zusammen und plötzlich wird man ausgestoßen, nur weil die Behörden einen Erfolg vorweisen müssen. Niemand redet mehr mit einem, sie wenden ihre Blicke ab und schauen zu Boden. Es ist die Hölle.«
»Warum sind Sie nicht weggezogen?«
»In Tennweide steht mein Haus, in Tennweide wurde ich geboren und dort bin ich aufgewachsen«, konterte der Apotheker. »Ich werfe nicht die Flinte ins Korn. Ich lasse mich nicht so einfach vertreiben. Tennweide ist zwar nicht der Nabel der Welt, aber es ist meine Heimat.«
»Ich verstehe«, antwortete Justin. »Und wie ist das Verhältnis heute?«
Der Apotheker zeigte auf die Tür. »Die Menschen in Tennweide sind mir inzwischen egal. Ich bin die meiste Zeit hier in meiner Apotheke. Und die Leute kommen jetzt wieder. Damals war ich schon kurz davor, schließen zu müssen. Wenn die Feriengäste nicht gewesen wären, hätte ich keine andere Wahl gehabt. Es war eine lange Durststrecke und dann starb auch noch meine Frau. Sie hatte eine Lebensversicherung. Ich konnte meine Apotheke retten und für Sven ein anständiges Pflegeheim finden. Im Dorf konnte er nicht mehr bleiben.«
»Sie haben sicherlich gehört, dass eines der Mädchen vor ein paar Tagen in der Nähe der dänischen Grenze wieder auftauchte. Sie wurde möglicherweise aus einem fahrenden Wagen geworfen. Können Sie sich einen Reim darauf machen?«
Rudolf