Otternbiss. Regine Kölpin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Regine Kölpin
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839264928
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weil ihr Sohn als Morgenmuffel lange brauchte, um zu Späßen aufgelegt zu sein, verdrängte sie. Ihre Schritte beschleunigten sich von Meter zu Meter. Sie würde Lukas gleich zu Hause antreffen, sie war völlig umsonst so in Panik geraten. Er lag bestimmt in seinem Bett, würde sie mit seinen blauen Augen anblinzeln und »Hallo, Mama« sagen. Sie sah schon sein Grinsen. »Hast dich ganz schön erschreckt, was?«

      *

      Rothko blickte in den Himmel. Der zeigte sich ihm in strahlendem Blau, nur ein paar vereinzelte Wolken zogen behäbig darüber. Sie wirkten wie Schafe und der Kommissar empfand direkt so etwas wie Empathie für sie. Er war auch ein Schaf. Hierher abkommandiert. Er wartete auf die Schlachtbank. Ein bisschen durfte er auf der Insel noch seinen Dienst tun, dann würde man ihm den Todesstoß versetzen.

      Eine Kur hatte er beantragt. Weil ihm all die Verbrechen auf die Nerven fielen, weil er keine Lust mehr hatte, sich mit dem Abschaum der Gesellschaft auseinanderzusetzen.

      »Für eine Kur reicht es nicht, Herr Rothko. Wir lassen Sie den Frühling und den Sommer auf Wangerooge Ihren Dienst tun. Dann sehen wir weiter. Dort wird Ihnen der frische Wind um die Nase wehen, Ihre negativen Gedanken einfach wegpusten.« Ein breites Grinsen hatte sich über das Gesicht seines Chefs gezogen, bevor er Rothko die übrigen Vorzüge der Insel angepriesen hatte. »Klären Sie den einen oder anderen Fahrraddiebstahl auf. Vielleicht beschäftigen Sie auch ein paar Drogendelikte, da haben Sie dann aber die Kollegen vom Zoll als Unterstützung. Und natürlich Jillrich, Ihren Partner in der Polizeistation. Den Rest der Zeit nutzen Sie für ausgiebige Spaziergänge am Strand.«

      Rothko fand im Nachhinein, dass die Stimme seines Vorgesetzten ein wenig spöttisch geklungen hatte.

      Er hatte sich nicht gewehrt. Gedacht, so schlecht sei die Idee mit der Insel nicht, und sich in sein Schicksal ergeben. Gleich zu Beginn war er über diese Gedichttafeln in den Dünen gestolpert. Das erste, das er gelesen hatte, war »Manchmal muss einer fortgehen, um allein zu sein mit Himmel und Wasser.« Das hatte er sich zu eigen gemacht und als Startschuss für sein neues Leben betrachtet. Ein ungewöhnlicher Zug an ihm, sonst dachte er nicht in diesen esoterischen Bahnen, war eher nüchtern veranlagt. Aber wenn er schon sein Dasein komplett veränderte, warum dann nicht auch im Denken anders werden?

      Eine Woche befand er sich bereits auf Wangerooge. Außer dem bisschen Papierkrieg hatte er tatsächlich nichts weiter zu tun gehabt. Zwischendurch beschlich ihn das Gefühl, er könne es hier wirklich aushalten. Es kam natürlich darauf an, was der Kollege, der hier seinen regelmäßigen Dienst tat, für ein Typ war. Mit dem musste er schließlich eine ganze Weile auskommen. Aber der wohnte unten in seiner eigenen Wohnung. Man konnte sich aus dem Weg gehen.

      Ein weiteres Manko war die Kaffeemaschine. Völlig verkalkt spuckte sie eine undefinierbare braune Brühe aus. Ein Gesöff, das er nun wirklich nicht als Kaffee bezeichnen würde.

      Immerhin gab es einen funktionierenden Wasserkocher. Im Augenblick trank er Pulverkaffee.

      Eine Katastrophe, wenn man dermaßen auf Kaffee fixiert war wie er. Hin und wieder beschlich ihn das Gefühl, es könne ihm doch so etwas wie Sucht anhaften. Aber gab es das? Kaffeesucht? Er schüttelte den Kopf darüber, mit was für Gedanken er sich so den ganzen Tag beschäftigte, wenn er dem Nichtstun ausgesetzt war.

      Der Kollege würde morgen aus seinem Urlaub zurückkehren. Bevor der Osteransturm auf die Insel begann, hatten sie ungefähr zwei Wochen, sich aneinander zu gewöhnen. Schlimmer als mit dem Kollegen Kraulke konnte es sicher nicht werden. Kraulke war für Rothko nach wie vor ein rotes Tuch. Er war ihm auf dem Festland im letzten Jahr an die Seite gestellt worden. Sie hatten den Mord an einer Frau aufzuklären gehabt.

      Die Chemie zwischen ihnen stimmte einfach nicht.

      Rothko sog die salzige Luft tief in seine Lungen. Allein, dass er diesen Menschen auf dem Festland zurückgelassen hatte, war ein Geschenk. Eines, das selbst den fehlenden Kaffee zur Nebensache degradierte. Seine Frau vermisste er nicht sonderlich, sie hatten sich schon lange nicht mehr viel zu sagen. Sie wollte in drei Wochen kommen. Vielleicht.

      Rothko legte den Kopf in den Nacken, erfreute sich jetzt an den weißen Schafen, die gemächlich über den Himmel schwebten. Er hatte zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl, ein Glückspilz zu sein.

      Zu seiner Rechten ertönte das laute Hecheln eines Hundes. Dann stoppte etwas neben ihm und im selben Augenblick fühlte er winzige Sandkörner an seinem Unterschenkel. Rothko warf einen Blick auf das Tier. Der Hund war groß und ihm fehlte der Schwanz. Einen solchen Hund gab es nur einmal auf der Insel und er gehörte dem Zollbeamten.

      »Moin!« Der Kollege klang etwas gehetzt, vermutlich hastete er schon eine geraume Weile hinter seinem Tier her. »Auch unterwegs?«

      Rothko mochte Ubbo Münkenwarf. Sie hatten gleich am ersten Abend ein Bier in Rothkos neuer Wohnung getrunken. »Moin! Bisschen Frischluft tanken. So gemütlich ist meine neue Bleibe ja nicht!« Rothko streichelte dem Hund flüchtig über den Kopf. Der schleckte sofort mit der Zunge über seinen Unterarm.

      »Buddy, lass das!«, sagte Ubbo.

      Rothko wischte die Hand an der Hosennaht ab und verkniff sich einen Kommentar, zumal sein Kollege gleich weiterredete: »In der Bude bei Ihnen da oben fühlt man sich wie in dem schwedischen Möbelhaus, oder?« Er grinste. »Nur ohne die schöne Deko, die sie da immer noch haben. Aber seien Sie froh, dass Sie noch allein wohnen können. Genießen Sie das!« Der Zollbeamte schob sich die Mütze in den Nacken und strich sich über die Glatze.

      Rothkos Gesicht sprach Bände. »Ich freu mich schon, wenn sich das in Kürze ändert und wir zu zweit in der Bude hausen dürfen. Ist genau das Richtige für einen Einzelgänger wie mich.« Die Tatsache, dass er nur vor­übergehend allein in der Dienstwohnung wohnen konnte, war der größte Nachteil seiner Versetzung. Zur Hauptsaison, kurz vor Ostern, kam immer ein dritter Kollege auf die Insel und würde zu ihm in die Wohnung ziehen. Er hatte vorsorglich den größten Schlafraum mit dem Doppelbett besetzt. Er hoffte auf einen umgänglichen Mitmenschen, der ihn in Ruhe ließ.

      »Der Hund ist heute so unruhig, das geht auf keine Kuhhaut.« Der Zollbeamte schüttelte den Kopf. »So kenne ich Buddy gar nicht. Immer will er zu den Dünen. Merkwürdig. Sonst kann er vom Wasser nicht genug haben und nun das! Ich werde ihn anleinen.« Er tippte sich mit Zeige- und Ringfinger grüßend an die Stirn. »Nichts für ungut, Herr Kommissar!« Der Mann trollte sich.

      Rothko sah, dass der Hund seine Schnauze ständig in Richtung Dünenkette drehte, der Zollbeamte ihn aber lieber am Wattsaum halten wollte.

      Der Wind blies aus Osten, was sicher die klare Luft erklärte. Das schlechte Wetter kam fast immer aus Nordwest. Rothko spazierte noch ein Stück dagegen an, kehrte schließlich um und schlenderte über den Strand in Richtung der Dünen, die sich hier recht steil auftaten.

      Der Kommissar betrachtete die überhängenden Dünen­kämme. An einigen Stellen hatte der Sturm es geschafft, sie zum Einstürzen zu bringen. Wie Schnee­lawinen waren sie abgebrochen. Nicht mehr lange und der Wind würde den Sand davontragen. Nichts bliebe davon zu sehen. Die Dünenformation änderte sich ständig. Nie sah die Insel gleich aus. Ein ewiges Wechselspiel.

      Rothko ließ sich vor der Anpflanzung nieder, die zum Schutz der Dünen errichtet worden war. Er griff mit der Faust in den Sand. Die feinen Körner rieselten zwischen den Fingern hindurch. Eine Möwe schrie gellend.

      Dieser Ton löste in ihm eine Unruhe aus, die ihn an seine Zeit auf dem Festland erinnerte. Ein Gefühl, das ihn genau dann anfiel, wenn er in einem Fall eine Spur gewittert hatte, wenn er glaubte, auf der richtigen Fährte zu sein. Hier gab es allerdings nichts, nach dem er jagen konnte und wollte. Er war auf Wangerooge, um Abstand zu bekommen. Dass er so reagierte, zeigte ihm deutlich, wie nötig er eine Auszeit hatte. Doch ihm ging das Verhalten des Hundes nicht aus dem Kopf. Warum zum Teufel war der so erpicht darauf gewesen, vom Wasser weg genau in diese Richtung zu laufen?

      Rothko schlug mit der geballten Faust im Sand herum. Er wollte diese Gedanken jetzt nicht zulassen. Er war hier, weil er seine Ruhe brauchte. Keine Verbrecherjagd mehr. Aus. Vorbei. Schluss.

      Rothko erhob sich. Es war besser,