Die Wiege des Windes. Ulrich Hefner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulrich Hefner
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839264225
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210 war die Kennung des Kreuzers. Eine schwedische Fahne wehte am Mast. Schon als das Schiff vor zehn Stunden Wilhelmshaven verlassen hatte, war er sicher gewesen, dass etwas nicht stimmte. Er hatte Erkundigungen über Schiff und Besatzung eingeholt: eine russische Forschungsgesellschaft, die ein Projekt zur Erforschung des Wattenmeers und seine Auswirkungen auf die klimatischen Verhältnisse durchführte. Aber da musste etwas anderes dahinterstecken.

      »Wie lange willst du noch Löcher in die Luft starren, mein Junge«, riss ihn Corde aus seinen Gedanken. »Es kommt Sturm auf, wir sollten nicht zu lange warten, der Himmel gefällt mir heute nicht.«

      Larsen warf Corde einen geringschätzigen Blick zu. »Du machst dir zu viele Sorgen. Wir bleiben so lange wie die da drüben. Ich muss wissen, was hier vorgeht.«

      Der Alte wandte sich um und ging mit langsamen Schritten auf das Ruderhaus zu. Larsen nahm das Fernglas wieder vor die Augen. Auf dem Kreuzer herrschte noch immer hektische Betriebsamkeit. Männer in gelbem Ölzeug beugten sich über die Reling und starrten ins Wasser. Larsens Fernglas streifte ihre Gesichter. Plötzlich erstarrte er mitten in der Bewegung und sein Blick verharrte auf einer Gestalt, die abgesetzt von den anderen am Vormast stand. Der große und stämmige Mann mit dem dichten, schwarzen Vollbart trug eine dunkelblaue Daunenjacke mit Fellbesatz und hatte eine schwarze Wollmütze tief in das Gesicht gezogen. Vor seinen Augen lag ebenfalls ein Fernglas, das genau auf Larsen gerichtet war. Larsen zuckte zusammen. Es schien fast, als ob der Riese ihn hämisch anlächelte. Dann formte der Mann mit seiner rechten Hand eine imaginäre Pistole, indem er mit dem Zeigefinger auf Larsen zeigte und den Daumen wie einen Abzugshahn aufrichtete. Larsen blickte gespannt zu. Plötzlich ließ der Riese seinen Daumen nach vorne schnellen. Larsen hastete zum Ruderhaus und öffnete die Tür. »Wir müssen hier weg!«

      Warme Luft strömte ihm entgegen. Corde saß hinter dem Ruder und blätterte in einem alten, zerschlissenen Anglermagazin. Er blickte auf. »Was ist denn mit dir los? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«

      Larsen schloss die Tür. »Sie haben uns bemerkt. Es ist besser, wenn wir verschwinden.«

      Mit einem Seufzer richtete sich der alte Corde auf. Behäbig startete er den Motor des alten Kutters. Als der Motor nach einem gurgelnden Grollen ansprang, atmete Larsen tief ein. Der riesige Mann auf dem fremden Schiff machte ihm Angst. Auf dem rostroten Kreuzer stimmte etwas nicht, und er würde herausfinden, was die Kerle dort draußen im Roten Sand im Schilde führten. Noch heute Nacht.

      »Holt dich Rike am Hafen ab, mein Junge?«, durchbrach Corde nach einer Weile das dröhnende Schweigen im Ruderhaus.

      »Rike? Nein, ich fahre nicht mit in den Hafen. Bring mich nach Langeoog und wenn dich jemand nach mir fragt, dann hast du mich nicht gesehen, verstanden!«

      Corde musterte ihn skeptisch. Larsen sah fast noch aus wie ein sommersprossiger Teenager, obwohl er Mitte dreißig war. Die strohgelben Haare hingen wirr in das bleiche Gesicht und die Pupillen der wässrig blauen Augen flatterten nervös hin und her.

      »Ihr habt doch nicht wieder etwas angestellt?«

      Larsen schüttelte den Kopf. »Nicht viel, nur ein paar Reifen platt gemacht und zwei, drei Briefe geschrieben. Jemand muss es diesen korrupten Schweinen doch mal zeigen. Sie sollen wissen, dass ihnen jemand auf die Finger sieht und sich wehrt.«

      Der Alte verzog das Gesicht. »Du hast dich erwischen lassen? Sie suchen dich?«

      Larsen druckste herum. »Sind wohl ein paar Fingerabdrücke auf dem Kuvert. Aber es steht nichts Schlimmes drin.«

      »An wen hast du die Briefe geschrieben?«

      »Einen nach Hannover und die anderen nach Oldenburg«, antwortete Larsen. »Sie sollen die Hände vom Wattenmeer lassen, sonst …«

      »… sonst?«

      Larsen seufzte. »… sonst sollen sie schon mal eine Seebestattung buchen.«

      Corde schüttelte den Kopf. »Ich habe deiner Mutter am Sterbebett versprochen, auf dich Acht zu geben, aber du reitest dich immer wieder selbst in die Scheiße. Ein Jahr hinter Gittern war wohl nicht genug?«

      Betreten blickte Larsen zu Boden. »Sie haben schon wieder die Fahrrinne am Borkumgrund vertieft. Schau dir die Küste an. Das Watt ist mittlerweile löchrig wie ein Käse. Bald fahren sie mit den großen Fähren zu den Inseln. Zweimal so groß wie die von Frisia. Im Sommer tummeln sich die Bootsausflügler an den Sandbänken und das Robbensterben hält noch immer an.«

      »Trotzdem hast du nicht das Recht, sie zu bedrohen«, sagte Corde. »Du musst sie überzeugen, aber in der Sache und nicht mit Gewalt.«

      »Es geht nur um Profit, das ist ihre einzige Religion«, erwiderte Larsen. »Hast du nicht selbst gesagt, man muss für seine Überzeugungen einstehen, auch wenn’s manchmal weh tut?«

      Corde lächelte. »Ja, genau das habe ich gesagt, mein Junge, aber das ist doch etwas ganz anderes.«

      »Was ist daran anders? Diese Welt geht langsam aber sicher vor die Hunde. Da kann ich nicht einfach zuschauen. Das ist meine Überzeugung, verstehst du?«

      Der Alte nickte. »Du bist wie dein Vater«, sagte er sanft.

      Den Rest des Weges schwiegen beide. Als der Kutter in den Hafen von Langeoog einfuhr, peitschte der starke Wind die Wellen auf. Noch bevor Corde mit Larsens Hilfe sein Schiff vertäut hatte, lief der rostrote Kreuzer durch das Hafentor in das ruhigere Hafenwasser ein.

      Corde richtete sich überrascht auf. »Hast du davon gewusst?«, fragte er Larsen, der gerade das starke Schiffstau um den Poller legte.

      Ein Lächeln huschte über Larsens Lippen. »Sie haben sich gestern ein paar Zimmer im Hotel Flörke bestellt«, antwortete er, bevor er die Kapuze seines Parkas tief ins Gesicht zog.

      *

      Nachdem der rostrote Kreuzer im Hafen von Langeoog vertäut war, stiegen die Männer von Bord und gingen zum kleinen Bahnhof hinüber, wo ein Zug der Langeoogbahn auf die Versorgungsfähre der Frisia-Fährgesellschaft wartete. Auch der Riese war unter ihnen. Es dauerte beinahe eine Stunde, bis die kleine rote Bahn mit der Besatzung des Kreuzers hinüber in das Dorf fuhr.

      Larsen atmete auf, als die Männer in den Zug gestiegen waren. Corde brühte einen Tee auf, während Larsen ungeduldig wartete, bis der Zug hinter der nächsten Biegung verschwand. Als die Nacht über die Insel hereinbrach, ging er von Bord des Kutters und verschwand im Dämmerlicht.

      Corde hatte es sich im Ruderhaus bequem gemacht und schreckte kurz vor Mitternacht auf, als jemand ans Fenster pochte. »Verdammt, was soll das denn?« Im schwachen Licht erkannte er Larsen. »Du spinnst wohl, Junge, wo kommst du her?«

      Larsen reichte ihm einen Brief in einem braunen Umschlag. »Versteck ihn gut. Gib ihn Rike, wenn sie wieder zurück ist. Aber sei vorsichtig. Es ist am besten, wenn du gleich aufbrichst.«

      Der Alte schaute den Brief ungläubig an. »Junge, ich will mit deinen Machenschaften nichts zu tun haben.«

      »Dafür ist es zu spät. Du steckst schon mitten drin. Es ist wichtig, dass du gleich ausläufst«, sagte Larsen eindringlich. »Und du weißt nicht, wo ich bin und du hast mich schon lange nicht mehr gesehen.«

      Ehe Corde noch etwas erwidern konnte, verschwand Larsen in der Dunkelheit. Eine halbe Stunde später legte Corde ab.

      *

      Corde vertäute den Kutter im Hafen von Greetsiel und fuhr in seinem alten, klapprigen Wagen nach Hause. Drei Tage waren inzwischen vergangen. Weder Rike noch Larsen hatten sich bei ihm gemeldet. Es war auch besser so. Der Junge zog das Unheil an wie an heißen Sommertagen der Süßmost die Wespen. Dabei war er überhaupt nicht schlecht, er war nicht kriminell. Er war nur rebellisch, ein wenig halsstarrig und rebellisch. Corde schaltete das Licht am Wagen ein. Die Dämmerung war hereingebrochen und die dicken Wolken verhießen nichts Gutes. Hoffent­lich würde er es noch vor dem Regen nach Hause schaffen. Mit seinen knapp siebzig Jahren war er froh, wenn er seinen Wagen noch bei Tageslicht in seinem kleinen Hof hinter dem Deich abstellen konnte. Den Kutter über die See zu steuern,