Flugs eilten die Stolps den Kresseberg wieder hinunter, tauchten in die schmalen Gassen des Fischerdörfchens ein und erwarben eine Krawatte –eine seidene! Als sie wieder zurück hinauf in ihr Zimmer stiegen, schnellte an ihnen ein großer schlanker Herr im dunklen Anzug vorbei. Silke und Andor machten sich fein. Andor legte die neu erworbene Krawatte an.
Als sie den Speisesaal betreten wollten, öffne ihnen ein eleganter Herr die Flügeltür und wünschte „buena sierra!“. Die Besucher erkannten sofort: Das war der Signor vom Kressenberg. Hier war er „Maitre de Salle“, öffnete Flügeltüren, rückte Gästestühle zurecht, nahm aber keine Bestellung auf – servierte auch weder Getränke noch Speisen. Dazu hatte er die Unterkellner, 1. welche, die die Bestellungen für die Menues aufnahmen, 2. welche, die die Menues servierten und schließlich 3. welche, mit denen die Gäste Getränke auswählten, die von denselben Kellnern dann auch kredenzt wurden. Damit die Gäste immer durchblickten, war jede Art von Kellnern anders gewandet: Frackmäßig der Maitre de Salle, schwarze Straßenanzüge die übrigen Kellner – die Notierer der Menues allerding mit schwarzen und die eigentlichen Kellner mit roten Krawatten, und knallrote Jacketts trugen die Herren der Getränke. Alles geschah in einem großen, hell erleuchteten Raum mit kleinen Tischen für zwei, vier oder sechs Personen. Die Stolps genossen das sehr.
Da erschien ein älterer Herr im dunklen Anzug, Frisur schwarzhaarig. „Ein typischer Spanier.“, dachte Silke. Er schien in Eile zu sein und hier bekannt. Fix aß er den ersten Gang und auch den zweiten, dann stand er auf, warf die Stoffserviette über seinen Stuhl, legte einen Geldschein auf den Tisch und sagte im Gehen zu den ihn beobachtenden Kellnern:
„Its for you, boys!“
Das waren Ausläufer der Kolonialzeit. Aus dem „Taoro“ wurde später ein Spielkasino, und das einstige Fischerdorf „Santa Cruz de Tenerife“ wuchs zu einer Touristenstadt heran. Pfauen vor dem „Teide“ gab es nicht mehr. Bald war das „Orotava“-Tal weitgehend zubetoniert. Es fuhren Linienbusse hin und her: Es war wie in einer deutschen Großstadt.
Beim ersten Besuch hatten sich die Stolps ein Auto gemietet und sind auf die andere Seite der Insel gefahren. Das war der Südwesten: Karstland! Seinerzeit hatten die Urlauber ein trauriges und einsames Fischerdorf entdeckt, das hieß „Los Christianos“. Später stand hier eine Hotelanlage neben der anderen. Massentourismus war angesagt. Fast die ganze Südküste war mittlerweile zugebaut. Das trockene Wetter schien genau richtig für die sonnenhungrigen „Touris“, die nun kamen.
Grünanlagen neben Pools in „Los Christianos“ wurden nun künstlich bewässert. Es kamen jetzt mehr als vier Millionen Besucher pro Jahr – nunmehr ohne Zwischenstopp. Der Flughafen „Teneriffas“ wurde in den Süden verlegt; der im Norden war altmodisch geworden, und eine neue Autobahn zog sich die gesamte Südküste entlang.
Teneriffa liegt etwa 3000 Kilometer von Deutschland entfernt. Sie gilt als die schönste Insel der Kanaren, ist 2.034,84 Quadratkilometer groß und hatte ca. 907.000 Einwohner.
Nach ihrem ersten Besuch „Teneriffas“ waren Silke und Andor noch mehrmals dort: Die Insel wurde voller und voller. Gebaut wurde wie verrückt. Und das gute alte „Taoro“ gab es längst nicht mehr.
Einmal waren sie in „Vilaflor“ hier, ganz untypisch in den Bergen auf etwa 1400 Metern Höhe: Nach einer Operation im Gehirn hatte sich Andor bei Wanderungen dort erholt. Die neuen Badeorte des Südens und die weitläufigen Strände konnte er damals „von oben“ betrachten.
Zum letzten Mal zog es die Stolps in den Südwesten „Teneriffas“. Hier befand sich ein im südspanischen Stil errichtetes Hotel namens „Gran Meliá“. Vom Hotelzimmer aus hatten sie einen direkten Blick aufs Meer, und sie konnten bis zur Insel „La Gomera“ schauen.
Bald wanderten Silke und Andor die Küste „Teneriffas“ entlang Richtung „Los Gigantes“. Anfangs war die dortige Uferpromenade gepflegt. Offenbar unterlag sie der Fürsorge der Urlauberhotels, die man hier wie Perlen an einer Schnur errichtet hatte. Vor jedem Hotel befand sich ein Pool, eingebettet in einen „botanischen“ Garten.
Doch dann mussten die beiden in eine Wüstenei klettern und kamen an Bananenplantagen vorbei, die teilweise aufgegeben waren. Sie vermuteten, dass auch hier Hotels errichtet werden sollten. Die Kanaren stellten ihre Wirtschaft offensichtlich weg von der Landwirtschaft und hin zum Tourismus um. Wo wahrscheinlich weitere Hotels geplant waren, nisteten sich vorläufig zwischen schwarze Felsen „wilde“ Camper ein, auch sie Touristen. Eigentlich war ja hier Campen verboten, aber wen interessierte das?
Schließlich kam das Paar in „Varadero“ an. Waren sie jetzt schon auf Cuba? Nein, „Varadero“ nannte sich ein Vorort von „Puerto de Santiago“. Viele Deutsche – man konnte es an den Namensschildern der Wohnungen sehen – hatten hier ein Feriendomizil. Aber das Schild „Se Vendre“ war ebenfalls oft zu sehen. Ebbte der Boom ab?
Dann trafen sich Silke und Andor mit Freunden, die am entgegengesetzten Ende der Insel wohnten. Als Treffpunkt wurde der Ort „Icod de los Vinos“ vereinbart.
Mit einem Bus der Gesellschaft „titsa“ fuhren Stolps zum vereinbarten Treffpunkt auf die andere Seite der Insel. Dazu mussten sie in „Varadero“ umsteigen, und hinterher ging es in die Berge im Zickzack nach Norden. Die Strecke war landschaftlich sehr schön. Es war Frühling, und die Mandelbäume standen in voller Blüte. Blumenübersäte Hänge, grüne Wiesen, Weiden, Terrassen und unten das blaue Meer erfreuten: Sie erlebten die Kanaren von der schönsten Seite. – An Haarnadelkurven wurde der Bus langsamer; er rollte dann Radfahrern hinterher, die sich in den Berge quälten.
Dann waren sie in „Icod de los Vinos“. Die Freunde stellten beruhigt fest, dass alle sich warm angezogen hatten, denn sie waren ja nun auf der Nordseite der Insel. Aber die Stolps waren im Bilde: Einmal bei einem früheren Besuch hatte ein offensichtlicher „Ossi“ gefragt:
„Entschuldigung, ist es hier immer so kalt?“
Zuerst gingen alle in ein geographisches Museum, in dem Karten gezeigt wurden, die Vorfahren vor etwa 500 Jahren von den Kanaren gezeichnet hatten. Dann besuchten sie ein kleines Restaurant, wo sie eine kanarische Gemüsesuppe und etwas Schinken aßen. Dazu gab es Bier, kanarischen Wein (rot und weiß) sowie Kaffee.
Hinterher wanderten alle durch den Ort und kamen schließlich zum angeblich 1000-jährigen Drachenbaum („El Drago“), der das Wahrzeichen der Stadt war. Der Baum wog 140 Tonnen, seine Krone war 20 Meter breit, der Stammumfang betrug sechs Meter, und hoch war die Pflanze siebzehn Meter! Das war schon ein kleines Weltwunder, auch wenn Experten das Alter glatt auf die Hälfte der 1000 Jahre reduzierten. Aber 1000 Jahre klingt für die Touristen eben viel schöner.
Weiter schlenderten Stolps mit ihren Freunden durch den Ort und waren bald wieder am Busbahnhof. Silke wurde auf der Rückreise schlecht von der kurvenreichen Strecke. Die Fahrt selber war dennoch interessant: Immer wieder stiegen Einheimische für kurze Strecken ein. Einer redete laut und unverständlich mit dem Fahrer. Der antwortete höflich und etwas leiser. Dann kam ein alter Mann, der einen gefüllten Beutel unter seinen Sitz stellte. Als es in die Kurve ging, kullerte ein Teil des Beutelinhalts in den Busgang. Der Alte tat, als habe er nichts gemerkt, hielt seinen Beutel aber fortan gut geschlossen. Silke und Andor sahen, dass nun Maiskörner im Gang des Busses lagen. Ging es bergauf, kullerten die alle nach unten, bergab kullerten sie nach vorne; bei einer Linkskurve versammelten sich alle links, bei rechts rechts. Dann stieg der Mann aus, immer noch den ganzen Vorgang ignorierend, aber seine Maiskörner wechselten weiterhin wie eine kleine Völkerschar ‘mal nach vorne, ‘mal nach hinten, ‘mal nach rechts, ‘mal nach links. Das war lustig. Und sicher kein für die Touristen inszeniertes Schauspiel.
Beim Aussteigen entdeckten sie ein Thermometer: neun Grad! Stürmisch war es obendrein. Auch am