Jene unerschrockenen Europäer, die ihre Wurzeln gekappt hatten und die sich dem tosenden Atlantik entgegenwarfen, wollten eine schreckliche Vergangenheit hinter sich lassen und eine hoffnungsvolle Zukunft ergreifen. Sie sehnten sich danach, Amerikaner zu werden. Ihre Ziele waren Flucht, Erlösung, Assimilierung. Sie sahen Amerika als eine sich transformierende Nation, aus der sie schreckliche Erinnerungen verbannen und einen einzigartigen nationalen Charakter formen konnten, der auf gemeinsamen politischen Idealen und gemeinsamen Erfahrungen basierte. Die Entscheidung für Amerika bestand nicht darin, alte Kulturen zu bewahren, sondern eine neue, amerikanische Kultur zu schaffen.
Ein Grund, warum Kanada, trotz aller seiner Vorteile, so anfällig für Schismen ist, besteht in der Tatsache, dass, wie Kanadier freimütig zugeben, ihr Land eine solch einzigartige nationale Identität nicht besitzt. Immer wieder angezogen durch Großbritannien, Frankreich und die USA und aus Großzügigkeitserwägungen heraus einer Politik des offiziellen Multikulturalismus zugeneigt, haben Kanadier niemals ein starkes Bewusstsein dafür entwickelt, was es heißt, Kanadier zu sein. Mit den Worten von Sir John Macdonald7, Kanadas erstem Premierminister: „Das Land hat zu viel Geographie und zu wenig Geschichte.“
Die USA dagegen haben eine reiche Geschichte. Seit den Tagen der Revolution besitzen die Amerikaner ein starkes nationales Identitätsgefühl, das im Unabhängigkeitskrieg geschmiedet, in der Erklärung von 1776 und der Verfassung von 1787 artikuliert und durch die spätere Erfahrung der Selbstverwaltung vertieft wurde. Die Kraft des nationalen Credos ist der Grund dafür, dass es uns relativ gut gelungen ist, die „promiskuitive Rasse“ Crèvecoeurs in ein Volk umzuwandeln und dadurch eine multiethnische Gesellschaft zum Funktionieren zu bringen.
Das soll nun aber nicht heißen, dass die Vereinigten Staaten Crèvecoeurs Maßstab immer gerecht geworden wären. Neue Einwanderungswellen brachten Menschen ins Land, die nur sehr schwer in die Gesellschaft hineinpassten – eine Gesellschaft, die in ihrer Sprache, ihren Idealen und ihren Institutionen ja unvermeidlich englisch war. Für lange Zeit dominierten die Angloamerikaner die amerikanische Kultur und Politik. Sie schlossen jene aus, die nach ihnen kamen. Anglo-Amerika assimilierte nur schwer die Einwanderer aus Irland, aus Deutschland oder aus Süd- und Osteuropa.
Hinsichtlich der nichtweißen Menschen – jenen also, die Amerika schon lange zuvor besiedelt hatten und die von den europäischen Neuzuwanderern überrannt und massakriert wurden, oder jenen anderen, die gegen ihren Willen aus Afrika und Asien ins Land hinein geholt wurden – verwies ein tief verwurzelter Rassismus alle, ob rote, schwarze, gelbe oder braune Amerikaner, hinter die Grenzen ihres jeweiligen Grundstücks. Wir müssen uns einer beschämenden Tatsache stellen: Historisch gesehen war Amerika eine rassistische Nation. Weiße Amerikaner begannen als ein Volk, das in der Überzeugung von seiner rassischen Überlegenheit so arrogant war, sich ermächtigt zu fühlen, rote Menschen zu töten, schwarze Menschen zu versklaven und gelbe und braune Menschen für Tagelöhnerarbeiten zu importieren. Wir weißen Amerikaner waren rassistisch in unseren Gesetzen, in unseren Institutionen, in unseren Sitten, in unseren eingeübten Reflexen und in unseren Seelen. Der Fluch des Rassismus war das große Versagen des amerikanischen Experiments, der schreiende Widerspruch des amerikanischen Idealbilds und die noch immer lähmende Krankheit des amerikanischen Lebens – „die schönste Hoffnung der Welt“, schrieb Herman Melville, „verkettet mit des Menschen schlimmsten Verbrechen.“
Doch auch nichtweiße Amerikaner, obwohl miserabel behandelt, trugen zur Ausgestaltung der nationalen Identität bei. Auch sie, als Menschen dritter Klasse, hatten Anteil an der gemeinsamen Kultur der amerikanischen Gesellschaft und verhalfen ihr zu neuer Form und Gestalt. Das Hineinströmen nicht–angelsächsischer Stämme und die Erfahrung einer Neuen Welt formten das britische Erbe um; es machte die USA, wie wir alle wissen, zu einem ganz anderen Land, als Großbritannien es heute ist. Schon 1831 war Alexis de Tocqueville8, der große Kommentator der amerikanischen Demokratie, beeindruckt von dem „immensen Unterschied zwischen den Engländern und ihren Nachkommen in Amerika.“
Im Verlauf der zwei Jahrhunderte amerikanischer Geschichte bestand über die meiste Zeit hinweg die Vision von Amerika als eines zu einem einzigen Volk verschmolzenen Landes. Das 20. Jahrhundert brachte freilich eine neue, gegenteilige Vision hervor. Der Erste Weltkrieg zerstörte die alte Ordnung der Dinge und machte Platz für Woodrow Wilsons9 Doktrin von der Selbstbestimmung der Völker. 20 Jahre später löste der Zweite Weltkrieg die westlichen Kolonialreiche auf und intensivierte ethnische Militanz rund um den Planeten. In den Vereinigten Staaten selbst erleichterten neue Gesetze den Zutritt für Einwanderer aus Südamerika, Asien und Afrika – sie änderten die Zusammensetzung des amerikanischen Volkes.
In einem Land, das durch eine viel ungewöhnlichere Blutsmischung gekennzeichnet ist, als Crèvecoeur es sich je hätte vorstellen können, wird dessen gefeierte Frage aufs Neue aufgeworfen – mit neuer Leidenschaft und einer neuen Antwort. Heutzutage haben viele Amerikaner dem historischen Ideal einer „neuen menschlichen Rasse“ (im Sinne Crèvecoeurs, A. d. Ü.) abgeschworen. Die Flucht aus der Herkunft führt zur Suche nach den eigenen Wurzeln. Die „hergebrachten Vorurteile und Verhaltensweisen“, von Crèvecoeur noch verleugnet, haben ein überraschendes Comeback erfahren. Ein Kult der Ethnizität hat sich entwickelt – sowohl unter nicht-angloamerikanischen Weißen als auch unter nichtweißen Minderheiten. Dieser Kult verunglimpft das Ziel der Assimilierung und fordert das Konzept des „einen Volkes“ heraus, er schützt und fördert getrennte ethnische und Herkunfts- Gemeinschaften und will sie nun auf Dauer fortbestehen lassen.
Der Durchbruch der Ethnizität hatte viele positive Folgen. Die amerikanische Kultur begann, schamhaft den Leistungen jener Minderheiten eine längst überfällige Würdigung zukommen zu lassen, die während der Blütezeit angelsächsischer Dominanz unterschätzt und verschmäht worden waren. Zu guter Letzt begann auch die amerikanische Erziehung, die Existenz und Bedeutung der großen weiten Welt jenseits von Europa anzuerkennen. All dies war von großer Wichtigkeit. Natürlich sollte Geschichte aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus gelehrt werden. Lasst doch unsere Kinder versuchen, sich die Ankunft von Kolumbus aus der Sicht jener Menschen vorzustellen, die ihm als erste begegneten, ebenso aber auch aus der Perspektive derjenigen, die ihn entsandt hatten! Auf einem begrenzten Planeten lebend und gleichzeitig die globale Führerschaft anstrebend, sollten Amerikaner wahrlich mehr über andere Ethnien, andere Kulturen und andere Kontinente erfahren! Und wenn sie dies tun, erwerben sie zugleich ein viel komplexeres, belebenderes Verständnis von der Welt – und damit auch von sich selbst.
Infolge einiger Übertreibungen hatte der Kult um die ethnische Zugehörigkeit freilich auch negative Folgen. Die neue frohe Botschaft von der Ethnizität weist die vereinheitlichende Vision des Menschen zurück, der, aus allen Nationen kommend, in eine „neue Rasse“ (im Sinne Crèvecoeurs, A. d. Ü.) umgeschmolzen wird. Die ihr zugrunde liegende Philosophie besteht darin, dass Amerika keineswegs eine Nation von Individuen, sondern vielmehr eine Nation von Gruppen ist, dass Ethnizität die prägende Erfahrung für Amerikaner ist, dass ethnische Wurzeln dauerhaft und unauslöschlich sind und dass die Aufteilung in ethnische Gemeinschaften die Grundstruktur der amerikanischen Gesellschaft bildet sowie die grundlegende Bedeutung der amerikanischen Geschichte darstellt.
Mit dieser Philosophie verbunden ist die Einteilung aller Amerikaner entlang ihrer ethnischen Unterscheidungsmerkmale. Doch während die ethnische Interpretation der amerikanischen Geschichte, ähnlich wie ihre ökonomische, bis zu einem gewissen Punkt gültig und erhellend ist, so ist sie wiederum vollständig irreführend und falsch, wenn sie sich als das ganze Bild darzustellen versucht. Die ethnische Interpretation macht vielmehr die historische Theorie von Amerika als einem einzigen Volk wieder rückgängig – jene Theorie, der es bis dahin gelang, dass die amerikanische Gesellschaft als Ganzes zusammengehalten werden konnte.
Amerika wird unter dieser Perspektive nicht als eine sich selbst umformende Nation mit einer ganz eigenen Identität betrachtet, sondern als Schutzhülle für verschiedene fremdländische