Der Deutsche. Jens Jessen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jens Jessen
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783866747845
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gekauft, manchmal mit sehr viel Geschmack gekauft, aber kein integraler Bestandteil ihres Wesens. Diese Frauen treten zeitlebens wie ein Teenie auf, der zum ersten Mal die Ausgeh-Rüstung angelegt hat, oder wirken jedenfalls ganz sachlich, als gebe es gar nichts zu gucken und schon gar nichts zu zeigen. Und das ist keine Verstellung: Sie sind wirklich ganz sachlich. Auf keinen Fall wollen sie berechnend erscheinen, und zwar so wenig, dass sie tatsächlich nicht berechnen, wie sehr sie auf fallen und um wieviel mehr sie auf fallen könnten, wenn sie nur ein kleines bisschen übten, in den Stilettos zu gehen.

      Die Deutsche ist generell kein »Weibchen«, das müsste man loben, muss aber kein Vorteil sein, vor allem, wenn sie auf die altmodisch noch voll ausgebildeten Weibchen anderer Nationen trifft. Das sind dann »Schlangen«. Die deutsche Frau wird, ebenfalls von der brasilianischen Dachgartenparty enttäuscht, aber auch sonderbar erregt und leider folgenlos animiert, beim Heimatanruf sich über »diese Latino-Frauen« mokieren, »nein, wirklich, dieses Getue … wie sie da herumstelzen … das ist ja fast schon Prostitution … oder gefällt dir so was?« Der Ehemann oder der Sohn, mit dem sie telefoniert, bestreitet das natürlich.

      Vor allem neigt die deutsche Frau – die prototypische Deutsche natürlich nur – zur moralischen Abwertung anderer Frauen. Um Anstoß zu nehmen, reichen ihr unter Umständen schon auf fällige Gepflegtheit – demonstrative Gepflegtheit –, elegante Kleidung, die auch als solche getragen wird – anderen bewusst vermittelnd, dass sie gerade eine sehr chic gekleidete Frau sehen –, angenehme Bewegungen, gefällige Konversation, nette Komplimente: also alles, was den Wunsch verrät zu gefallen.

      In gesteigert deutschen Milieus, nämlich in linksalternativen oder grünen Zusammenhängen, können schon rasierte Achselhöhlen oder Seidenstrümpfe äußerste Missbilligung erregen. Unter ganz harten Vertreterinnen tugendhafter Reinheit ist sogar der Gebrauch von Deodorants verpönt (von Parfüm, Lippenstift, Make-up ganz zu schweigen). Sie finden das »unnatürlich«.

      Die Verehrung des Natürlichen ist eine ideologische Konstante im deutschen Seelen- und Gesellschaftsleben, sie findet sich in allen politischen Lagern, im linken wie im rechten wie im liberalen, und ist gewissermaßen die Mutter aller Querfronten.4 Sie vor allem wird uns im folgenden noch sehr beschäftigen, weil der Natürlichkeitskult die Anfälligkeit für autoritäre Lösungen begründet und alle Diktaturen der Vergangenheit getragen hat.

      Für die Deutschen ist Natur eine große Sache, nicht einfach nur »Umwelt« oder das vor aller Zivilisation Gegebene, sondern Norm und Ideal. Und nirgendwo auf der Welt ist diese »Natur« so wenig Natur. Sie ist Dogma – eigentlich ein Tugendkatalog, etwas vollkommen Ausgedachtes und Erkünsteltes. Und doch erweist sich der Deutsche, wenn er in die wirkliche Natur, in die Wildnis oder kaum entwickelte Landstriche, versetzt wird, darin erstaunlich lebensfähig, gegen jede Regel. Denn in der Regel scheitern die Begegnungen mit dem Ideal, jedenfalls wenn es sich um die reale Besiedlung des verklärten Raumes handelt, also etwa des revolutionären Kuba oder Nicaragua, in dem sich die deutschen Polittouristen gar nicht so wohl fühlten.5

      Aber in der Zivilisationsflucht der Deutschen steckt ausnahmsweise eine richtige Intuition. Wunderbarerweise ahnen sie zu Recht, als Robinson eine bessere Figur zu machen als in der geselligen Konkurrenz. Die Wälder schweigen, die Waffen schweigen, nur die Erde dampft. Ist der Deutsche der Affe unter den Menschen? Vielleicht bedarf es mehr Aufwand, um den Robinson in der deutschen Frau zu entdecken als im Wesenskern des Mannes, den man dazu nur als Heimwerker, verbissenen Jogger oder maulfaulen Wissenschaftler erleben muss. Aber auch an der Frau ist jener Eskapismus, eine gewissermaßen kreatürliche Menschenfurcht zu beobachten. Würde sie sich nicht am liebsten mit ihrer Brut in die Sicherheit einer Astgabel zurückziehen? Und wie um unsere These zu erleichtern, hat es die Emanzipation mit sich gebracht, dass die Deutsche neuerdings ebenfalls als verbissene Joggerin, versponnene Wissenschaftlerin, kommunikationsbehinderte Akkuschrauberin auf tritt.

      Alles in allem lässt sich sagen: Die Deutschen sind tüchtig in der Abgeschiedenheit, dem eigenen, eng gezogenen Kreis, aber nicht mit anderen Menschen.

      Und das ist schon das ganze Drama.

       Ausrüstung

      ZAHLLOSE Bücher sind über Deutschland geschrieben worden, seit die Wiedervereinigung so etwas wie das große D wieder ins Bewusstsein gebracht hat; im letzten Jahrzehnt hat sich die Frequenz der Publikationen noch einmal verdoppelt. Sie alle rudern gewaltig mit kräftigen Armen, um sich durch die Stoffmassen zu bewegen. Was gilt es nicht alles zu bedenken und umzuwälzen, den Kampf der Konfessionen und der Klassen, den Idealismus, die Romantik und den Judenmord, selbst über das deutsche Abendbrot, dieses Gemetzel kalter Schnittchen, haben sich die Denker der Gegenwart liebend den Kopf zerbrochen.

      Es muss sich doch, wenn das Factum brutum der nationalsozialistischen Verbrechen erst einmal abgehakt und eingestanden ist, auch etwas Schönes finden lassen. Und da finden wir dann: den Fußball, das sogenannte Sommermärchen, die vorbildliche Nachkriegsdemokratie, den Exportweltmeister, das ökologische Bewusstsein, die soziale Marktwirtschaft und so weiter, ungefähr in dieser Reihenfolge und kruden Mischung. Was wir nicht finden, sind die Schönheit der Städte, die bedeutenden Dichter der Gegenwart, die Eleganz der Frauen und Männer, die Feinheit der Umgangsformen, Sprachwitz und Ironie, die bezaubernden Landschaften mit ihren wie hineingetupften Dörfern – denn sie alle gibt es kaum.

      Was wir aber ebenfalls in den zeitgenössischen Deutschlandbüchern nicht finden, sind Dinge, die es sehr wohl gibt: die grauen Gesichter der Pendler aus den Vorstädten, die stumpfen Mütter, die zwischen Büro und Haushalt gerade noch eine Stunde finden, um ihre Kinder zum Weinen zu bringen, den Wutkrampf der rasenden Männer auf den Autobahnen, die kulturelle Verwahrlosung der Unter- und Oberschichten, überhaupt der langsam verrottende Gesellschaftsaufbau. Noch gar nicht besichtigt, erst recht nicht ins tugendhafte Selbstbild inkorporiert ist die gewaltige Korruptionslandschaft, die sich im Untergrund der deutschen Wirtschaft gezeigt hat, gewissermaßen neuerdings vom Meeresboden an die Oberfläche gestiegen ist – der Abgasbetrug der Automobilwirtschaft, der Bilanzbetrug der Firma Wirecard, die Sklavenhaltung in den Großschlachtereien. Ungeheure Summen sind verdient worden durch Schummeleien, die nur möglich waren, weil Deutsche sich für so ehrlich und anständig halten, dass sie immer wieder auf sich selbst hereinfallen.

      Aber vieles von dem finden wir in der älteren Literatur. Jedenfalls vieles von der Vorgeschichte der gegenwärtigen Tristesse. Wolfgang Koeppen hat in seinem Roman »Das Treibhaus« die westdeutsche Hauptstadt Bonn kurioserweise schon genau als das beschrieben, was sich später in die Berliner Republik hinüberretten ließ – nicht als das, was verging, sondern als das, was Dauer bewies: die Vetternwirtschaft, Nötigung durch Seilschaften, untergründige Fortexistenz nationalsozialistischer Antriebe. Lion Feuchtwanger, Carl Sternheim haben den Aufsteiger in seiner ganzen Brutalität entfaltet, der aus der Gosse mitbringt, was er an der Spitze der Gesellschaft benötigt. Heinrich Mann hat den Untertanen entdeckt, Thomas Mann in den »Buddenbrooks« geschildert, wie es immer und überall nur ums Geld geht, auch in den als innerseelisch erlebten Vorgängen.

      Vor allen anderen aber hat Heinrich Heine den deutschen Michel in seiner schlafmützigen Ängstlichkeit und Anpassungsbereitschaft verspottet – was heute nur mehr wenig originell wirkt, weil es zum ewig wiederholten, totgedroschenen Klischee des politischen Kabaretts wurde. Vielleicht ist der schon von Schiller entdeckte Untertanengeist auch die am wenigsten aktuelle Charakterkonstante.1 Inzwischen werfen ja selbst demonstrierende Polizeibeamte mit Bierdosen auf Kollegen. Ganz sicher ist es heute nicht mehr der Staat, dem die Unterwürfigkeit gilt. Zu überlegen ist allerdings, inwiefern sich die Untertänigkeit inzwischen auf andere Institutionen und Autoritäten bezieht oder in jene feige

      Bewunderung mündete, die allem gezollt wird, was aus Amerika kommt oder sich im Internet als Trend entfaltet.

      Es gibt eine lange Liste von zweifelhaften deutschen Eigenheiten, die schon vor über zweihundert Jahren beschrieben wurden (zu Teilen noch früher) und nur deshalb nicht mehr weiter diskutiert werden, weil sie schließlich im Nationalsozialismus ihre Vollendung zu erleben schienen und mit diesem für überwunden gehalten wurden. Nur im Hasskrampf der Achtundsechziger gegen ihre Eltern lebten sie noch einmal auf; aber