Formen der Verstörung. Lydia Davis. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lydia Davis
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783854208532
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wird, vielleicht wird ihr auch beim Anblick dieser Rüben zunächst sogar ein wenig schlecht und sie findet sie gar nicht anregend. Erstenfalls würde ich mich furchtbar schämen, im zweiten Fall wüsste ich mir nicht zu helfen – wie auch? –, sondern würde mir bloß eine simple Frage stellen: Will sie, dass ich das ganze Essen wieder vom Tisch abtrage?

      Nicht, dass mich das Essen in Panik versetzt. Ich habe ja letztlich einiges an Fantasie und Energie, und so wird es mir vielleicht auch gelingen, ein Essen auf den Tisch zu stellen, das ihr schmeckt. Es hat andere und erträgliche Abendessen gegeben – seit jenem unseligen Essen, das ich für Felice kochte, obwohl es vielleicht mehr Gutes als Schlechtes nach sich zog.

      Es war letzte Woche, dass ich Milena eingeladen habe. Sie war in Begleitung eines Freundes. Wir trafen uns zufällig auf der Straße, und ich redete hitzig drauflos. Ihr Begleiter hatte ein gutes, freundliches, dickes, dabei reichsdeutsch korrektes Gesicht. Nachdem ich die Einladung ausgesprochen hatte, ging ich lange in der Stadt herum, wie auf einem Friedhof, so sehr war ich in Frieden mit mir.

      Dann fing ich mit meiner Selbstfolterung an, wie eine Blume im Blumenkasten, die der Wind peitscht, ohne dass sie dabei auch nur ein Blütenblatt verliert.

      Wie ein von oben bis unten mit Bleistift korrigierter Brief, so habe auch ich meine Mängel. Angefangen damit, dass ich nicht eben kräftig bin, und ich glaube, selbst Herkules fiel einmal in Ohnmacht. Ich bemühe mich den ganzen Tag bei der Arbeit nicht an das zu denken, was vor mir liegt, aber es kostet mich so viel Kraft, dass für meine Arbeit nichts mehr übrig bleibt. Auch telefoniere ich überhaupt so schlecht, dass sich das Telefonfräulein meistens weigert, die Verbindung herzustellen. Deshalb sollte ich mir besser sagen: Also mach schon und bring das Tafelsilber auf Hochglanz, dann leg es auf die Anrichte, damit es zur Hand ist, und basta. In meiner Vorstellung polier’ ich es nämlich den ganzen Tag– und eben das bereitet mir Folterqualen (sauber wird das Silberbesteck davon allerdings nicht).

      Ich liebe deutschen Kartoffelsalat aus guten, alten Kartoffeln und Essig, obwohl er schwer und ein solcher Hammer ist, dass es mir, bevor ich überhaupt noch davon gekostet habe, schon ein wenig schlecht wird – so als würde ich eine bedrückende und fremdartige Kultur an meine Brust drücken. Wenn ich Milena das anbiete, dann gebe ich vielleicht einen ekelhaften Teil von mir preis, den ich ihr mehr als alles andere ersparen sollte, einen Teil von mir, den sie noch nicht kennt. Ein französisches Gericht könnte ich wiederum – trotz größerer Bekömmlichkeit – vor mir selbst nicht vertreten, und dieser Verrat wäre vielleicht unverzeihlich.

      Ich bin voll guter Vorsätze, und trotzdem untätig – wie an dem Tag im letzten Sommer, als ich auf dem Balkon saß und dem Käfer zusah, der auf den Rücken gefallen war und mit den Beinen zappelte, unfähig, sich aufzurichten. Ich hätte ihm gerne geholfen, und trotzdem schaffte ich es nicht aus dem Stuhl, um ihm zu helfen. Er hörte auf sich zu bewegen und rührte sich lange Zeit nicht mehr, so dass ich glaubte, er wäre schon hinüber. Dann kroch eine Eidechse über ihn hinweg, glitt an ihm herunter und richtete ihn auf, und er lief an der Wand hinauf, als wäre nichts geschehen.

      Gestern kaufte ich mir auf der Straße von einem Mann mit Karren das Tischtuch. Er war ein kleiner, fast winziger, schwacher, bärtiger, einäugiger Mann. Von einer Nachbarin lieh ich mir die Kerzenhalter aus, oder sollte ich sagen, sie borgte sie mir.

      Ich werde ihr nach dem Essen einen Espresso anbieten. Während der Vorbereitung für dieses Essen ist mir etwa so wie Napoleon, wie es Napoleon hätte sein müssen, wenn er beim Entwerfen der Pläne für den russischen Feldzug gleichzeitig ganz genau den Ausgang gewusst hätte.

      Ich sehne mich, mit Milena zusammen zu sein, nicht nur jetzt, sondern für immer. Warum bin ich ein Mensch? frage ich – was für eine höchst unsichere Stellung! Warum kann ich nicht der glückliche Schrank in ihrem Zimmer sein?

      Bevor ich meine liebe Milena kannte, dachte ich, ich könne das Leben nicht ertragen. Dann trat sie in mein Leben und zeigte mir, dass es nicht so war. Es stimmt, unsere erste Begegnung war nicht sehr vielversprechend, denn ihre Mutter machte die Tür auf – was für eine steinerne Stirn sie hat und in was für Goldlettern dort geschrieben steht: »Ich bin tot, und wer nicht auch tot ist, den verachte ich.« Milena schien erfreut über mein Kommen, aber noch mehr freute sie sich, als ich wieder ging. An diesem Tag fiel mein Blick zufällig auf einen Stadtplan. Einen Augenblick lang erschien es mir unbegreiflich, dass man eine so große Stadt aufgebaut hat, während sie doch nur ein Zimmer braucht.

      Vielleicht wäre es letztendlich am einfachsten, genau das für sie zu kochen, was ich für Felice gekocht habe, nur mit mehr Umsicht, damit nichts schief geht, und ohne die Schnecken oder Champignons. Ich könnte sogar den Sauerbraten auftischen, wie für Felice, obwohl ich damals noch Fleisch gegessen habe. Damals machte mir der Gedanke, dass auch ein Tier ein Recht auf ein gutes Leben hat und, was vielleicht noch wichtiger ist, auf einen guten Tod, noch nicht zu schaffen. Heute kann ich nicht einmal Schnecken essen. Mein väterlicher Großvater war Fleischhauer, und ich muss so viel Fleisch nicht essen, als er geschlachtet hat. Ich habe jetzt schon lange kein Fleisch mehr gegessen, obwohl ich Milch und Butter esse – aber für Milena würde ich wieder Sauerbraten machen.

      Ich selbst habe nie großen Appetit. Ich bin dünner, als ich sein sollte, bin aber schon seit langer Zeit dünn. So ruderte ich zum Beispiel vor ein paar Jahren oft in einem kleinen Boot auf der Moldau. Ich ruderte hinauf und fuhr dann ganz ausgestreckt auf dem Boden des Bootes mit der Strömung hinunter. Ein Freund, der mich eben so einmal von der Brücke sah, sagte, es hätte so ausgesehen wie vor dem Jüngsten Gericht, und mein Sargdeckel sei schon abgehoben gewesen. Andererseits war er selbst damals schon geradezu fett, massig, und hatte wenig Ahnung von dünnen Menschen, außer davon, dass sie eben dünn waren. Zumindest gehört dieses Gewicht auf meinen Füßen tatsächlich mir.

      Sie wird vielleicht überhaupt nicht mehr kommen wollen, nicht weil sie zickig ist, sondern erschöpft, was verständlich ist. Es wäre falsch zu sagen, sie würde mir fehlen, wenn sie nicht kommt, weil sie in meiner Vorstellung immer da ist. Und doch wird sie woanders sein, und ich werde, das Gesicht in den Händen, an meinem Küchentisch sitzen.

      Wenn sie kommt, werde ich immerfort nur lächeln, das habe ich von ei ner alten Tante von mir geerbt, die auch unablässig gelächelt hat, aber beide tun wir es eher aus Verlegenheit als aus guter Laune oder Mitgefühl. Ich werde kein Wort herauskriegen, nicht einmal glücklich werde ich sein, weil mir nach den Essensvorbereitungen die Kraft fehlen wird. Und wenn ich, mit dem Aus druck des Bedauerns wegen des ersten Gangs, der in der Schüssel wartet, die ich in Händen halte, zögere, die Küche zu verlassen und das Esszimmer zu betreten, und wenn sie, die in diesem Augenblick meine Verlegenheit spürt, zögert, aus dem Wohnzimmer und von der anderen Seite das Esszimmer zu betreten, ja, dann wird das schöne Zimmer während dieser langen Pause leer sein.

      Nun gut – einer kämpft eben bei Marathon, der andere in der Küche.

      Trotzdem: Ich habe jetzt meine Entscheidung fast das gesamte Menü be treffend gefällt und angefangen, unser Essen zuzubereiten, indem ich es mir in jeder kleinsten Einzelheit von Anfang bis zum Ende ausmale. Sinnlos und zähneklappernd wiederhole ich den folgenden Satz: »Dann laufen wir in den Wald.« Sinnlos, denn es gibt hier keinen Wald, und von Laufen kann ohnehin nicht die Rede sein.

      Ich glaube, sie wird kommen, aber mein Glaube wird von der gleichen Angst begleitet, die meinen Glauben immerzu begleitet, die Angst alles Glaubens seit jeher.

      Felice und ich waren zum Zeitpunkt dieses unseligen Abendessens nicht verlobt, obwohl wir uns drei Jahre davor verlobt hatten und uns eine Woche darauf wieder verloben sollten – wenn auch sicher nicht wegen dieses Essens, es sei denn Felices Mitgefühl wäre aufgrund der Vergeblichkeit meiner Anstrengungen, eine gute Buchweizen-Kascha, Kartoffelpuffer und Sauerbraten zu kochen, von neuem erwacht. Andererseits gibt es für unseren endgültigen Bruch mehr Erklärungen als tatsächlich nötig wären – das ist zwar lächerlich, aber gewisse Kenner der Materie meinen, dass selbst die Luft in dieser Stadt die Neigung zur Wankelmütigkeit verstärken könnte.

      Ich war ganz aus dem Häuschen, wie man’s eben immer ist, wenn etwas neu für einen ist, und natürlich hatte ich auch ein bisschen die Hosen voll. Ich hielt ein traditionelles deutsches oder tschechisches Essen für das