»Ich wusste gar nicht, dass ich eins hatte«, erwiderte Maren und fragte sich insgeheim, ob sie vielleicht nur etwas mit Leander angefangen hatte, um sich zu beweisen, dass sie nicht mit dem Sean-McLeary-Virus infiziert war. Doch damit hatte sie sich selbst belogen, denn es war längst zu spät gewesen. Außerdem hatte sie Leander wirklich gemocht, bis zu jenem ernüchternden Moment in Bushmills. Erst recht nach dem Fehler, zu dem sie sich in Dublin hatte hinreißen lassen.
»Ich habe lediglich eine Entscheidung korrigiert, sobald sie sich als falsch erwiesen hat. Das bringen sie uns auf der Bänkerschule bei, wie du die Goethe-Universität in Frankfurt immer nennst.«
»Warst du nicht auch in Oxford?«
Maren nickte. »Ein Dreivierteljahr. Hab dort meinen Master in Financial Economics gemacht.«
»Ich sag’s ja, du bist völlig überqualifiziert für den mickrigen Job bei uns.«
»Vergiss nicht den Spaßfaktor. Und den Familienanschluss. Ist beides nicht mit Geld zu bezahlen. Außerdem liebe ich deine Scones.« Sie biss genüsslich in das süße Gebäck, das sie mit Butter und Marmelade bestrichen hatte.
»Liebst du auch meinen kleinen Bruder? Also nicht nur seine landesweit gepriesenen Qualitäten im Bett.«
»Das ist eine knifflige Frage, Ciara«, gab Maren mit dem verträumten Blick zu, den sie in den letzten Monaten immer bekam, wenn sie an Sean dachte. »Die wenige Zeit, die wir miteinander verbringen, findet größtenteils in der Horizontalen statt.«
Und in einigen anderen Stellungen, die sie nie für möglich gehalten hätte. Schon beim Gedanken daran zog sich ihr Unterleib lustvoll zusammen. Aber war das Liebe? Sie hatten gegenseitig jeden Zentimeter ihrer Körper erkundet und doch wussten sie kaum etwas voneinander. Beide vermieden es, über ihre Vergangenheit und erst recht über eine mögliche gemeinsame Zukunft zu sprechen. Vielleicht änderte sich das nach dem Ende der Saison.
Maren dachte daran, wie es gewesen war, als sie Victor kennengelernt hatte. Sie hatten sich stundenlang Anekdoten aus ihrem Leben erzählt, angefangen von Kindheitserinnerungen über erste Schwärmereien und darauffolgende Enttäuschungen, hatten von ihren Träumen und Hoffnungen gesprochen. Hatten sich während der ersten sechs Monate zwar intensiv geküsst, aber nur sehr zurückhaltend gestreichelt. Erst zwei Wochen vor ihrer Hochzeit hatten sie zum ersten Mal miteinander geschlafen. Sie sei schon nervös genug, hatte sie gesagt, und wollte nicht auch noch ständig an die Hochzeitsnacht denken müssen. Sie war dreiundzwanzig gewesen und noch Jungfrau. Victor wusste zumindest, was zu tun war und er war sehr einfühlsam gewesen.
Das war Sean auch, noch dazu äußerst versiert. Nie stellte er seine eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund. Einmal hatte er gesagt, es bereite ihm mehr Vergnügen, ihre Lust zu befriedigen als seine eigene. Wenn er das wollte, bräuchte er nur selbst Hand an sich zu legen. Von Liebe war zwischen ihnen bisher nie die Rede gewesen.
Ciara räusperte sich und riss Maren damit aus ihren Gedanken.
»Öhm, es gibt Dinge, die gehen eine Schwester eigentlich nichts an, aber sag mir nur eins: Ist er wirklich so gut?«
»Sean ist ein Teufel, der dich direkt in den Himmel katapultiert. Mehrfach.«
»Äh, danke, keine weiteren Einzelheiten, bitte.« Ciara schlug verlegen die Augen nieder. Dann sah sie Maren ernst an. »Denk bitte daran, dass du ihm das Herz brichst, wenn du auch diese Entscheidung korrigierst. Schau mich nicht so skeptisch an. Ihr traut euch beide nicht, es zuzugeben.«
»Dann weißt du mehr als ich. Ganz ehrlich: Ich bin verrückt nach Sean, aber ich weiß nicht, ob ich in ihn verliebt bin. Sagt er etwas anderes?«
Ciara stieß die Luft durch ihre Zähne und schüttelte den Kopf. »Glaubst du, er wollte die Touren tauschen, weil Cork zwei Tage vor Wexford endet? Elmer hatte sich auf die Zusammenarbeit mit dir gefreut.«
»Ich mich auch, aber so haben Sean und ich etwas mehr Zeit miteinander.«
»Papperlapapp. Danach ist Winterpause, da kommt es auf die acht Tage nun wirklich nicht an. Würde mich nicht wundern, wenn Sean etwas ganz anderes im Schilde führt. Sei also bitte überrascht, wenn er mit dir nach Clonakilty fährt.« Als Maren sie überrascht anschaute, wedelte sie abwehrend mit den Händen. »Er hat nichts in der Richtung gesagt, Elmer und ich haben uns das nur zusammengereimt. Aber stell dich darauf ein, dass ihr, wenn alles gut läuft, getrennte Zimmer haben werdet. Unsere Eltern sind sehr katholisch.«
»Wie kommst du darauf, dass er mich euren Eltern vorstellen will? Er meidet sie seit Jahren wie die Pest, was ich nicht begreife.«
»Netter Versuch. Von mir erfährst du nichts, das soll er dir selbst erzählen.«
»Ich will nicht indiskret sein, aber es kommt mir manchmal so vor, als ob du dich auch nicht sonderlich auf die Besuche in Clonakilty freust, sondern sie eher als Pflicht siehst. Täusche ich mich?«
»Nun ja, die meiste Zeit verbringe ich mit meinen Schulfreundinnen. Die paar, die noch dort wohnen. Mehr sage ich nicht, ich will dich nicht beeinflussen. Mach dir selbst ein Bild, falls du unsere Eltern wirklich treffen solltest.«
Ciara schwieg und Maren hatte etwas zum Nachdenken. Dabei wollte sie sich eigentlich auf die Terminplanung für die nächste Saison konzentrieren. Es gab ein Gesetz, das vorschrieb, dass Busfahrer nach spätestens zehn Tagen mindestens einen Tag pausieren mussten. Daher dauerten die Rundreisen von ›Doyle & McLeary Bustours‹ nie länger als acht oder neun Tage. Elmer hatte normalerweise nach den Cork- oder Ostküstentouren mindestens zwei, manchmal drei Tage frei, die er mit seiner Familie verbrachte. Fuhr er zwei Connemara-Touren hintereinander, genügte auch ein Tag.
Also tüftelte sie an einem Plan, der es ihr ermöglichen sollte, wenigstens zwei Mal im Monat länger als nur ein paar Stunden mit Sean zusammensein zu können.
2.
Cork-Rundreise
Maren erinnerte sich allzu gut daran, wie Sean sie in Belfast gemaßregelt hatte, weil sie Leander bei seiner Ankunft am Flughafen vor aller Augen geküsst hatte. Also fragte sie auf der Fahrt nach Cork: »Wir müssen so tun, als seien wir nur Kollegen, nicht wahr?«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Wegen Belfast. Du hast von einer nicht besonders professionellen Vorstellung gesprochen, als du mich wegen – du weißt schon – heruntergeputzt hast.«
»Das war eine völlig andere Situation, Maureen.«
»Ach, dann warst du also doch eifersüchtig?«
Sean warf ihr einen kurzen Seitenblick zu, setzte den Blinker und verließ den ersten Kreisverkehr in Richtung M 18. »War ich nicht.«
»Warum kannst du es nicht einfach zugeben?«
»Weil ich es zu diesem Zeitpunkt nicht Eifersucht, sondern Besessenheit genannt habe. Natürlich habe ich es darauf angelegt, dich in mein Bett zu bekommen; ich wollte dich besitzen, auf alle mir bekannten Arten und ein paar mehr, die ich mir noch nicht vorstellen konnte. Das war alles, woran ich dachte, mehr wollte ich nie von einer Frau. Gott, du warst so heiß und schienst es nicht einmal zu wissen, gabst dich umso unnahbarer, je mehr ich dich reizte. Eine Herausforderung, nachdem ich gewohnt war, immer ein leichtes Spiel zu haben. Und du warst mir gegenüber ganz schön kratzbürstig.«
»Das hattest du verdient. Ich fand deine ständigen sexuellen Anspielungen einfach widerlich.«
»Trotzdem hast du dir vorgestellt, wie es …«
»Lass gut sein, Sean«, unterbrach sie ihn unwirsch. »Es reicht. Ich habe dir eine einfache Frage gestellt. Bekomme ich eine klare Antwort?«
Sie waren erst kurz hinter Galway, würden noch knapp drei Stunden bis Cork brauchen. Vor ihnen lagen neun Tage und acht Nächte, auf die sie sich beide gefreut hatten. Wieso stritten sie plötzlich? Das erste Mal, seit sie zusammen waren. War es vielleicht doch ein Fehler? Nicht nur die Tour, sondern das ganze letzte halbe Jahr. Maren biss sich auf die Unterlippe.