»Lieber Harry, lieber Basil, ihr müsst mir beide gratulieren!«, sagte der Jüngling, nahm seine elegante Pelerine ab und schüttelte den Freunden die Hand. »Ich bin nie so glücklich gewesen. Natürlich kommt es plötzlich, wie alles wahrhaft Schöne im Leben. Und doch kommt es mir so vor, als sei ich mein Leben lang nur danach auf der Suche gewesen.« Er war rot vor Erregung und Freude und sah über die Maßen schön aus.
»Ich hoffe, du wirst immer sehr glücklich sein, Dorian«, sagte Hallward; »aber ich verzeihe dir nicht ganz, dass du mir nichts von deiner Verlobung mitgeteilt hast. Du hast es Harry mitgeteilt.«
»Und ich verzeihe dir nicht, dass du zu spät zum Essen kommst«, fiel Lord Henry ein, der seine Hand auf die Schulter des Jünglings legte und lächelte, während er sprach. »Komm, setzen wir uns und versuchen, was der neue Chef hier kann, und dann erzählst du uns, wie das alles gekommen ist.«
»Da ist wahrhaftig nicht viel zu erzählen«, rief Dorian, als sie sich an den kleinen runden Tisch gesetzt hatten. »Es war einfach so. Als ich gestern Abend von dir weggegangen war, Harry, zog ich mich um, speiste in dem kleinen italienischen Restaurant in Rupert Street, das ich durch dich kennengelernt habe, und ging um acht Uhr ins Theater. Sibyl spielte die Rosalinde. Natürlich waren die Dekorationen schrecklich und der Orlando zum Lachen. Aber Sibyl! Ihr hättet sie sehen sollen. Als sie in ihren Knabenkleidern hereinkam, war sie einfach wundervoll. Sie trug eine moosfarbene Samtjacke mit zimtbraunen Ärmeln, kurze braune Hosen, die kreuzweise überm Knie gebunden waren, ein reizendes grünes Mützchen mit einer Habichtsfeder, die von einem funkelnden Stein festgehalten wurde, und einen mit stumpfem Rot gefütterten Kapuzenmantel. Sie war mir nie köstlicher erschienen. Sie hatte ganz die zarte Grazie des Tanagrafigürchens, das du in deinem Atelier hast, Basil. Ihr dichtes Haar hing um ihr Gesicht wie dunkles Laub um eine blasse Rose. Ihr Spiel – nun, ihr werdet sie heute Abend sehn. Sie ist einfach eine geborene Künstlerin. Ich saß in der schmutzigen Loge wie festgebannt. Ich vergaß, dass ich in London und im neunzehnten Jahrhundert lebe. Ich war mit meiner Liebsten weit weg in einem Walde, den nie jemand gesehn hatte. Als die Vorstellung zu Ende war, ging ich nach hinten und sprach mit ihr. Als wir so zusammen saßen, kam plötzlich in ihre Augen ein Ausdruck, den ich nie vorher gesehn hatte. Meine Lippen suchten sie. Wir küssten einander. Ich kann euch nicht schildern, was ich in dem Augenblick gefühlt habe. Mir schien, als mein Leben sei zusammengedrückt in einen einzigen Punkt rosafarbener Freude. Sie zitterte am ganzen Leib; sie bebte wie eine weiße Narzisse. Dann warf sie sich auf die Knie und küsste meine Hand. Ich weiß, ich sollte euch das nicht alles erzählen, aber ich kann nicht anders. Natürlich ist unsere Verlobung ein großes Geheimnis. Sie hat nicht einmal ihrer Mutter davon gesprochen. Ich weiß nicht, was meine Vormünder dazu sagen werden. Lord Radley wird sicher wütend werden. Ich mache mir nichts daraus. In weniger als einem Jahr bin ich volljährig und kann dann tun, was ich will. Ich hatte recht, Basil, nicht wahr, meine Geliebte aus der Poesie zu holen und mein Weib in Shakespeares Stücken zu finden? Lippen, die Shakespeare sprechen gelehrt hat, haben mir ihr Geheimnis ins Ohr geflüstert. Die Arme Rosalindens haben mich umfasst, und Julia hat mich auf den Mund geküsst.«
»Ja, Dorian, ich glaube, du hattest recht«, sagte Hallward langsam.
»Hast du sie heute gesehen?«, fragte Lord Henry.
Dorian Gray schüttelte den Kopf. »Ich verließ sie in den Ardennen, ich werde sie in einem Garten Veronas wiederfinden.«
Lord Henry schlürfte nachdenklich seinen Champagner.
»Bei welcher Gelegenheit sprachst du das Wort Heirat aus, Dorian? Und was erwiderte sie? Vielleicht weißt du gar nichts mehr davon.«
»Lieber Henry, ich behandelte die Sache nicht als geschäftliche Verhandlung, und ich machte keinerlei formellen Antrag. Ich sagte ihr, dass ich sie liebe, und sie sagte, sie verdiene nicht, mein Weib zu sein. Verdiene nicht! Wahrlich, die ganze Welt gilt mir nichts, verglichen mit ihr!«
»Die Weiber sind bewundernswert praktisch«, sagte Lord Henry wie vor sich hin – »viel praktischer als wir. In Situationen dieser Art vergessen wir oft, die Heirat zu erwähnen, und sie erinnern uns immer daran.«
Hallward legte ihm die Hand auf den Arm. »Nicht, Harry; du kränkst Dorian. Er ist nicht wie andre Männer. Er wird nie jemanden ins Elend bringen. Dazu ist seine Natur zu edel.«
Lord Henry blickte über den Tisch. »Dorian fühlt sich nie von mir gekränkt«, antwortete er. »Ich stellte die Frage aus dem triftigsten Grund, den es geben kann, aus dem einzigen Grund fürwahr, der einen entschuldigt, dass man überhaupt eine Frage stellt – nämlich aus Neugier. Ich habe eine Theorie, die lautet, dass es immer die Frauen sind, die uns einen Antrag machen, und nicht wir den Frauen. Außer natürlich im Leben des Mittelstands. Aber der Mittelstand ist eben nicht auf der Höhe der Zeit.«
Dorian Gray lachte und schüttelte den Kopf. »Du bist ganz unverbesserlich, Harry; aber ich bin nicht böse. Es ist unmöglich, dir gram zu sein. Wenn du Sibyl Vane siehst, wirst du fühlen, dass der Mann, der ihr ein Leid zufügen kann, eine Bestie sein müsste, eine herzlose Bestie. Ich kann nicht verstehn, wie ein Mensch es über sich bringen kann, das Wesen, das er liebt, in Schande zu bringen. Ich liebe Sibyl Vane. Ich möchte sie auf eine goldene Säule stellen, auf dass ich sehe, wie die Welt das Weib anbetet, das mein ist. Was ist Heirat? Ein unwiderrufliches Gelübde. Du spottest darum über die Heirat. Oh, spotte nicht! Ein unwiderrufliches Gelübde will ich ablegen. Ihr Vertrauen macht mich fromm und treu, ihr Glaube macht mich gut. Wenn ich bei ihr bin, wende ich mich von allem, was du mich gelehrt hast, ab. Ich werde anders als der Mensch, den du in mir siehst. Ich bin verwandelt, und wenn mich Sibyl Vane bloß mit der Hand berührt, vergesse ich all deine schlechten, bezaubernden, vergifteten, entzückenden Theorien.«
»Und die wären …?«, fragte Lord Henry und nahm etwas Salat auf seinen Teller.
»Oh, deine Theorien über das Leben, deine Theorien über die Liebe, deine Theorien über die Lust. Tatsächlich all deine Theorien, Harry.«
»Außer der Lust verdient kein Ding, eine Theorie zu haben«, erwiderte er mit seiner leisen, melodischen Stimme. »Aber ich fürchte, ich kann meine Theorie nicht für mich reklamieren. Sie gehört der Natur, nicht mir. Lust ist das Siegel der Natur, ihr Zeichen der Zustimmung. Wenn wir glücklich sind, sind wir immer gut, aber wenn wir gut sind, sind wir nicht immer glücklich.«
»Ah! Aber was nennst du gut?«, rief Basil Hallward.
»Ja«, stimmte Dorian bei, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte Lord Henry über den schweren Strauß purpurner Schwertlilien hinweg, der in der Mitte des Tisches stand, an, »was nennst du gut, Harry?«
»Gut sein heißt in Harmonie mit sich selbst sein«, erwiderte er, indem er mit seinen blassen, schmalen Fingern den dünnen Stiel seines Glases umfasste. »Missklang herrscht, wo man gezwungen wird, in Harmonie mit andern zu sein. Das eigene Leben das ist es, worauf es ankommt. Was das Leben der Nächsten angeht, kann man, wenn man ein Affe oder ein Pfaffe sein will, sich mit seinen moralischen Ansichten darüber wichtig machen, aber es geht einen nichts an. Überdies hat der Individualismus in Wahrheit das höhere Ziel. Die moderne Moral besteht darin, den Maßstab ihres Zeitalters zu akzeptieren. Ich bin der Meinung, dass es für jeden einigermaßen kulturfähigen Menschen eine Form der gröbsten Unmoral ist, den Maßstab seiner Zeit zu akzeptieren.«
»Aber wenn man bloß für sich selbst lebt, Harry, zahlt man sicher einen furchtbaren Preis dafür!«, meinte der Maler.
»Jawohl, man überfordert uns heutzutage in allem. Ich denke mir, die wahre Tragödie der Armen ist, dass sie sich nichts leisten können als Selbstverleugnung. Schöne Sünden sind wie schöne Dinge das Vorrecht der Reichen.«
»Man