Die Taucher blieben bei der Suche nach der Leiche erfolglos. Aber das musste nach ihrer Ansicht nichts heißen. Bei den herrschenden Strömungsverhältnissen, so die Auskunft von Branson W. McCann, dem Lieutenant der Hafenpolizei, der diesen Einsatz leitete, sei dies nicht ungewöhnlich. „Bei zurückgehendem Wasser kann ein menschlicher Körper leicht auf den Atlantik hinausgetragen werden“, meinte er. „Und genau das haben wir jetzt!“
Schließlich trafen die lang erwarteten Kollegen der SRD ein.
Von den Projektilen fanden allerdings auch sie keine Spur ebenso wie von der zweiten Patronenhülse. Es war durchaus möglich, dass sich die Kugeln ebenfalls auf dem Grund des Hudson befanden. Bei der Durchschlagskraft moderner Waffen war es selten, dass eine Kugel im Körper stecken blieb. Meistens traten die Projektile auf der anderen Seite wieder auf.
„Wenn man das verwaschene Foto auf dem Handy berücksichtigt, dann stand Patterson mit dem Rücken zum Hudson und der Täter müsste dann aus dieser Richtung gekommen sein!“, erklärte Milo und deutete in Richtung der Sträucher-Front.
„Das würde Sinn machen!“, glaubte Lieutenant Diberti. „Patterson bekam zwei Treffer und kippte die Uferbefestigung hinunter in den Fluss.“
„Und wie kommt dann das Handy in die Büsche?“, legte ich den Finger auf den wunden Punkt dieser Theorie. „Der Täter hätte es doch verschwinden lassen können!“
„Patterson könnte das Handy bis zu den Büschen geworfen haben!“, gab Milo zu bedenken.
„Ja – aber vom Ufer aus konnte er das nicht tun, ohne dass der Täter das genau sehen konnte!“, gab ich zu bedenken.
„Worauf willst du hinaus?“, fragte Milo. „Du meinst, dass jemand ein Verbrechen vorgetäuscht hat?“
„Ich gebe zu, dass ich die Möglichkeit schon in Betracht gezogen habe“, gab ich zu. „Das würde nämlich auch erklären, wieso nirgends Blutspuren zu finden waren.“
„Aber es gibt auch eine andere Erklärung dafür, dass der Täter das Handy nicht mitgenommen hat!“, sagte Lieutenant Diberti. „Zum Beispiel könnte es einfach daran gelegen haben, dass er gestört wurde. Sie beide waren doch sehr schnell hier!“
„Ja, das ist richtig“, bestätigte ich. „Allerdings wohl doch nicht schnell genug.“
„Es könnte auch die Joggerin gewesen sein, die den Täter gestört hat“, glaubte Milo.
„Jedenfalls sollten wir die vielleicht noch mal genauer befragen!“, fand ich.
Schließlich gab es da eine Differenz von einem Schuss zwischen dem, was die Kollegen im Field Office aufgezeichnet und dem, was die junge Frau gehört hatte. Auch dafür gab es allerdings mögliche Erklärungen. Vielleicht war die Verbindung bereits unterbrochen worden, als der zweite Schuss fiel.
Wir warteten ungeduldig darauf, dass die Kollegen der Scientific Research Division irgendwelche Spuren fanden. Kleinste Blutspritzer zum Beispiel, die man mit Hilfe von Luminol noch sichtbar machen konnte, obwohl kein menschliches Auge in der Lage gewesen wäre, sie wahrzunehmen.
Das in Frage kommende Areal war recht groß. Wir waren zunächst davon ausgegangen, dass das Verbrechen dort stattgefunden hatte, wo wir die Patronenhülse entdeckt hatten. Danach richteten sich letztlich auch die bislang ebenfalls erfolglosen Untersuchungen des Taucherteams, dessen Leiter Lieutenant McCann inzwischen dazu übergegangen war, mit Hilfe einiger Kollegen Berechnungen darüber anzustellen, wohin die Leiche von Charles M. Patterson gespült worden war.
Mehrere Boote der Hafenpolizei und der Küstenwache unterstützten uns bei der Suche nach dem Toten.
Ich ahnte schon, dass sich das länger hinziehen würde.
Es glich der berühmten Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen.
Zur Unterstützung forderten wir vom Field Office noch unsere eigenen Erkennungsdienstler Sam Folder und Mell Horster an, um weitere Untersuchungen durchzuführen. Die SRD-Kollegen hatten alle Hände voll zu tun und brauchten Unterstützung. Außerdem kam unser Chefballistiker Agent Dave Oaktree zum Tatort.
Er sollte herauszufinden, ob es durch die Einwirkung des Geschosses tatsächlich möglich gewesen war, dass Charles Patterson die Uferbefestigung hintergestürzt wäre. Es ging letztlich um eine Rekonstruktion eines vermuteten Tathergangs, bei dem bislang noch einiges im Dunkeln geblieben war.
Ich schaute mich nach der jungen Frau um, mit der Milo gesprochen hatte. Doch sie war längst nach Hause gegangen. Einer der Kollegen vom NYPD hatte ihre Aussage und auch die genauen Personalien aufgenommen.
„Ich möchte gerne noch mal mit ihr sprechen“, sagte ich.
„Mit dieser Sara McDougal?“, fragte Milo. „Ich denke, die hat uns alles gesagt, was sie wusste und woran sie sich erinnern konnte. Wenn du mich fragst, dann hatte die in erster Linie eine Heidenangst, dass ihr selbst etwas passieren könnte.“
„Siehst du hier irgendeinen Jogger, Milo?“
„Ich nehme an, du meinst den Teil des Parks, den die NYPD-Kollegen noch nicht mit Flatterband eingegrenzt haben“, gab Milo zurück.
„Milo, schau dir diese Wege an, wer will darauf laufen? Drüben im Battery Park auf der Dewey Promenade, laufen ganze Heerscharen von Joggern daher, aber hier...“
„Sie wollte vielleicht nicht dort laufen, wo alle laufen, Jesse!“
„Ich würde gerne einfach hören, was sie selbst dazu sagt!“
Milo seufzte. „Okay“, sagte er.
5
Wir suchten die Adresse im Battery Place 26 auf, die Sara McDougal angegeben hatte.
Sie bewohnte eine Traumetage in einem Haus, das mit seinen fünfzehn Stockwerken eher zu den kleinen Bauten dieser Gegend zählte. Es gab hier sowohl Büros als auch Apartments.
Sara McDougal war selbständige Anlageberaterin. So stand es auf dem Schild an ihrer Tür. Auch das war nicht überraschend. Viele, die in diesem Teil New Yorks lebten, hatten etwas mit der Börse oder den Banken zu tun. Zwar waren Wohnungen hier sündhaft teuer, aber manche dieser Yuppies arbeiteten fast rund um die Uhr und waren darauf angewiesen, keine weiten Wege zu ihrem Arbeitsplatz zurücklegen zu müssen. Einige selbstständig Arbeitende wie Sara McDougal hatten ihre Privaträume gleich an das Büro angegliedert.
Sie empfing uns in einem sehr seriös wirkenden Kostüm – konservativ genug, um in jeder Vorstandssitzung eines Bankenkonsortiums eine gute Figur zu machen.
„Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“, fragte sie, nachdem ich ihr meine ID-Cards gezeigt hatte. „Um ehrlich zu sein, wüsste ich nicht, was ich Ihnen noch zu dem sagen sollte, was ich bereits Ihrem uniformierten Kollegen von der City Police zu Protokoll gegeben habe!“
„Ich hatte eben keine Gelegenheit mich vorzustellen“, sagte ich. „Ich bin Agent Jesse Trevellian. Mit meinem Kollegen Milo Tucker haben Sie bereits gesprochen. Um ehrlich zu sein, haben die bisherigen Ermittlungen am Tatort eher mehr Fragen aufgeworfen als welche beantwortet.“
Sie führte uns zu einer Sitzecke, die aus schlichten Ledersesseln bestand. Man hatte von hier aus einen Blick bis zum Castle Clinton im Battery Park.
„Möchten Sie etwas trinken?“
„Danke, wir sind im Dienst!“, wehrte Milo ab und sprach damit durchaus auch in meinem Sinn.
Sara McDougal musterte uns kurz nacheinander. Dann fragte sie: „Was ist dort geschehen? Ist jemand umgebracht worden? Ich glaube, wenn sich nur jemand einen Scherz erlaubt und mit seiner Waffe in der Gegend herum geballert hätte, dann wäre wohl nicht so ein Aufhebens um die Sache gemacht worden.“
„Ehrlich gesagt – nicht einmal das wissen wir“, sagte ich.
Sie fixierte mich mit ihrem Blick.