Heißt du das Lichtlein schweigen,das deinen Kreis erhellt,so wird die Nacht dir zeigen,den Wunderglanz der Welt.«
Kurz bevor alle ins Bett gehen wollten, erschien ein dunkler Schatten im spärlich erleuchteten Wohnzimmer. Der Schatten legte von hinten seine Hände über die Augen des Jubilars, der sofort sagte: »Mary – Oh Mary, mein Engel.« Er erhob sich vom Sessel und die beiden Schatten verschmolzen für einige Zeit zu einem. Dann wandte sich Mary Wigman um und bewegte sich anmutig auf Ilse zu, die sie umarmte und auf die Wangen küsste. Das Licht wurde angeknipst, deshalb konnte man das verräterische Rot der inneren Erregung auf Bodes Gesicht sehen. Er war überrascht vom Besuch der Freundin, ihr Erscheinen war ein Zeichen innerer Verbundenheit und lebenslanger Treue. Ilse reichte jedem Erwachsenen ein Glas Weißwein und mit dem Alkohol und den lebhaften Erzählungen der Tänzerin entspannte sich die steife Atmosphäre. Die Enkelkinder wurden ins Bett geschickt, als die pikanteren Geschichten zur Sprache kamen, die nach Ansicht des Großvaters für Kinderohren ungeeignet waren.
Am nächsten Morgen saß Selma bereits zeitig am Frühstückstisch und blätterte in der Fernsehzeitung, als Bode streng gescheitelt den Raum betrat. Er riss dem Mädchen die Zeitung aus der Hand und sagte zornig: »Das ist keine Lektüre für Kinder, ich wünsche nicht, dass du in Illustrierten blätterst.«
Eingeschüchtert verdrückte sich Selma in die Küche, wo sie von Lina beruhigt wurde. Kurz darauf erschien auch die späte Besucherin im Esszimmer und setzte sich neben Bode. Mary hatte kinnlange schwarze Haare, blaugraue Augen und ein asketisches Gesicht. Mit ihren langen dünnen Fingern köpfte sie graziös das Frühstücksei und sprach mit tiefer ruhiger Stimme. Sie war dem Jubilar liebevoll zugewandt und wollte von ihm wissen: »Was hältst du von dem Einfluss der amerikanischen Popkultur auf die Lebensart und Sprache der Deutschen?«
Bode machte ein angewidertes Gesicht und meinte: »Es handelt sich um eine Popkulturindustrie. Durch die Massenproduktion ist alles gleichartig und auf den wirtschaftlichen Erfolg ausgerichtet. Wenn wir das übernehmen, verarmt unsere eigene Kultur. Authentische Kultur ist individuell und hat ihren Wert in sich selbst, sie gibt Anregungen und befördert das Nachdenken. Die Pop-Art erinnert mich an Mickymaus-Heftchen, die Bilder sind anspruchslos, plakativ und am Konsum orientiert. Die Musik ist eintönig, die Schlagertexte sind banal und Coca-Cola ist ungesund.«
Mary erwiderte: »Andy Warhol sagt: ›good business is the best art‹« und Ilse schüttelte verneinend den Kopf: »Boogie Woogie ist doch irgendwie frech. Was der Pianist am Klavier vollbringt, finde ich einfach toll! Wenn die Kinder mit der Leichtigkeit des amerikanischen Lebensstils das Kriegstrauma verarbeiten können, soll’s mir Recht sein.«
Mary fügte hinzu: »Boogie Woogie ist tänzerisch sogar ziemlich anspruchsvoll, es beeindruckt mich, wie die Männer ihre Partnerin zwischen den Beinen durch und über die Schulter schleudern.«
Bode beendete das in seinen Augen leidige Thema: »Die Sieger sind immer im Besitz der Wahrheit und das wird auf die Kunst übertragen. Mich interessiert vielmehr, wie Mary ihren Auftritt in New York erlebt hat?«
Die Angesprochene lächelte: »Vor der Carnegie Hall hing ein 10 Meter hohes Plakat, auf dem ich als Hexe abgebildet war, das hat mich dermaßen eingeschüchtert, dass ich schreckliches Lampenfieber hatte. Mit meiner Truppe lief es ganz gut und der Applaus war überwältigend. New York ist eine wundervolle, energiegeladene Stadt, warum reist ihr beiden nicht auch einmal in die neue Welt?«
Bode erhob sich, für ihn war das Frühstück beendet: »Mich lockt nur wenig über den großen Teich, ich habe gehört, dass die moderne Kunst, die die Nazis aus den Museen entfernt haben, jetzt in den Washingtoner Privatsammlungen wieder auftaucht.« Die Erwachsenen stiegen die Treppe hinauf und verschwanden in den Privatgemächern, die Kinder hörten nur noch: »Das Museum of Modern Art in New York hat angeblich die wertvollsten Stücke zusammengetragen, das würde mich schon interessieren.« Als das Mittagessen aufgetragen wurde, war Mary schon wieder abgereist. Die bayerischen Schulferien neigten sich dem Ende zu. Die ersten Herbststürme peitschten über das Steinhuder Meer und die Mädchen konnten nicht mehr hinaus aufs Wasser. Schließlich brachte Ilse sie in Hannover an den Zug und steckte jedem zum Abschied einen Geldschein zu.
Julia
1905–1923
Hermann Bode wurde am 21. August 1882 in Hannover geboren, er war der Sohn von Hermann Friedrich Bode und seiner Frau Auguste. Der Vater diente im Deutsch-Französischen Krieg 1870 / 71 als preußischer Ulan im Garnisonslazarett und durfte nach dem Baderexamen alle zahnärztlichen Operationen ausführen. In seiner Praxis für Zahnheilkunde lernte er Auguste Henneberg kennen und nahm sie wenig später zur Frau. Das Ehepaar Bode hatte vier Söhne, der älteste hieß Wilhelm und war sieben, Karl war fünf und Hugo drei Jahre alt, als Hermann geboren wurde. Die Familie wohnte in der Schmiedestraße 33, im Zentrum von Hannover, nicht weit entfernt von der Marktkirche und dem Flussufer der Leine. Die Praxisräume lagen im ersten Stock des Wohnhauses, die Familie bewohnte das zweite Geschoss und hatte drei ausgebaute Dachzimmer für Lehrlinge angemietet. Im Hochparterre befand sich das Ladengeschäft der Firma Wiegmann, die Nähmaschinen und Fahrräder verkauften. Die Wiegmanns hatten drei Kinder, Marie, Heinrich und Elisabeth. Ihre Wohnung lag hinter dem Verkaufsraum. Marie, die Älteste, wurde Mary gerufen, weil man in Hannover stolz darauf war, dass das Haus Hannover seit 1714 England regierte und Königin Victoria mit Albert von Sachsen-Coburg und Gotha vermählt war. Mary war vier Jahre jünger als Hermann und blickte bewundernd zu ihm auf. Als sie neun Jahre alt war, starb ihr Vater, und Hermann fühlte sich berufen, die Freundin von