Der deutsche Generalstabschef v. Falkenhayn wollte den Landweg zum Osmanischen Reich öffnen, weil die Alliierten an den Dardanellen unter Druck geraten waren. Sie benötigten Nachschub an Munition, Kriegsbedarf und unmittelbarer Truppenhilfe. Mit seinen Dragonern und einem Trupp Infanterie sollte Bode die marodierenden Söldnerbanden unter Kontrolle halten und die eroberten Industrieanlagen wieder in Gang setzen. Der Pferdepfleger Born und der Airedale Terrier Fels waren immer an seiner Seite, sein Dolmetscher hieß Kosta Rasin. Der Serbe kannte die Gegend und half den Deutschen, in dem unwegsamen Gelände die Partisanen aufzuspüren. Bei einem Erkundungsritt zur Matschkaglawa Hütte zog Fels den Kopf aus dem Halsband und jagte durch den Wald. Man hörte einen Laut und im gleichen Augenblick knallte ein Pistolenschuss in der Ferne. Die Streife fand das erschossene Tier und trat niedergeschlagen den Rückweg an. Am Eingang des Dorfes wurde Kosta Rasin entlassen. Er hatte sich kaum von den Deutschen gelöst, da fiel ein Schuss und der Dolmetscher sank getroffen zu Boden. Sofort wurden die Häuser durchsucht, die Hecken, der Busch, aber die Angreifer waren entkommen.
Bode konnte sich nicht damit abfinden, dass die Partisanen Kosta Rasin und seinen geliebten Hund erschossen hatten. Er weckte bei Morgengrauen die Dragoner, sie saßen auf und ritten ins Gebirge. Der Leutnant trabte langsam an der Spitze des Trupps, als einer der Männer getroffen vom Pferd fiel. Die Reiter schwärmten aus und kreisten einen Mann in zerschlissener Uniform ein, den sie mit einem Bajonettstich in den Rücken erledigten. Es stellte sich heraus, dass der fahnenflüchtige Serbe zahlreiche Raubüberfälle in der Gegend verübt hatte. Born knurrte: »Dragoner sind halb Mensch halb Vieh, aufs Pferd gesetzte Infanterie.«
Am Abend saßen die Landser in der Scheune beieinander und ein Kölner sagte: »Wir hatten heut ne Schweinebrate, der war so fett, den kunnt mer janit essen.«
»Was habt ihr dann gemacht?«
»Wir ham ihn doch jejessen.« Hermann notierte solche Anekdoten und die Lieder der Soldaten, dazu klebte er Fotos in den hinteren Teil seines Buches. Man sieht Frauen in prachtvoll bestickten Gewändern, außerdem Männer mit hohen schwarzen Hüten, die ein Ochsengespann führen. Auf einigen Abbildungen liegt Schnee, trotz der Kälte tragen die Männer Schuhe aus geflochtenem Stroh. Ein Foto zeigt die Goldwäscherei am Pek, ein zweites den Eingang eines Kohlebergwerks. Nachdem Montenegro Ende Januar 1916 kapituliert hatte, bekam der Familienvater Heimaturlaub und seine Kompanie wurde zurück nach Deutschland verlegt.
Der Heimkehrer hatte Julias Briefen entnommen, dass die Familie während seiner Abwesenheit in die Zahnarztpraxis umgezogen war und sein Vater dort praktizierte. Er überließ sein Pferd dem Burschen und kam zu Fuß in die Georgstraße, wo ihm Elsa die Tür aufmachte. Ihr Freudengeschrei rief die Schwestern herbei, die dem Vater um den Hals fielen, bis Julia, die sich still im Hintergrund gehalten hatte, ihren Mann in die Arme schließen konnte. Von Wiedersehensfreude übermannt, rang Hermann mit kurzen Atemzügen nach Luft und weinte, während ihm seine Frau beruhigend über den Rücken strich. In diesem Moment umfing sie ihre gemeinsame Geschichte. Angesichts der unerfüllten Hoffnungen und erlebten Enttäuschungen waren sie sich der Sinnlosigkeit einer Lebensplanung bewusst. Die Kinder zerrten an ihrem Vater, aber er rührte sich nicht von der Stelle. Maria rief: »Vati, wo ist denn der liebe gute Fels?« und das Echo der beiden Kleinen wiederholte: »Der Fels, der Fels?«, während sich Maria zwischen die Eltern drängte. Bevor Hermann vom Tod seines Hundes erzählte, packte er die mitgebrachten Geschenke aus: Er reichte Elsa ein goldenes Herz, das man aufklappen konnte, Erkengard erhielt ein ziseliertes Medaillon, besetzt mit kleinen türkisen Steinchen, und Maria eine Kette aus blauem Lapislazuli. Für Julia hatte er ein serbisch-orthodoxes Goldkreuz mitgebracht. Umgeben von zarten Ranken befand sich in dessen Mitte ein tiefroter Rubin.
Die Familie war glücklich über den Fronturlaub des Vaters, bis er wieder praktizieren musste. Bodes Nerven waren durch den Kriegsdienst angegriffen, er explodierte beim geringsten Anlass, was dazu führte, dass sich die Kinder vollkommen eingeschüchtert in einer Nische verkrochen. Bode hatte sich verändert, als religiöser Mensch hatte er, das fünfte Gebot missachtend, im Namen seines Vaterlandes getötet. Das Selbstverständnis seiner Vorkriegspersönlichkeit war ins Wanken geraten, obwohl er nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hatte. Er suchte die Nähe von Julia und erhoffte sich Trost in ihren Armen. In dieser existentiellen Krise war es ihm besonders wichtig, sich von einem Menschen vorbehaltlos angenommen zu fühlen, um nicht im inneren Elend zu versinken. Hermann sehnte sich nach liebevoller Berührung, um zur Ruhe zu kommen. Die psychischen Erschütterungen des Krieges führten dazu, dass er aus der evangelischen Kirche austrat, um Mitglied in der Anthroposophischen Gesellschaft zu werden.
Am 15. Oktober 1916 überbrachte der Postbote ein Telegramm, in dem Leutnant Bode zum Inselwacht-Batalion X. 32 auf die Nordseeinsel Norderney befohlen wurde, um die Führung einer Kompanie zu übernehmen. Maria wollte den Vater nicht wieder gehen lassen, daraufhin nahm er sie kurzerhand mit. Julia weinte beim Abschied, sie war im fünften Monat schwanger.
Man sprach vom Hungerwinter 1916, weil es wegen der englischen Seeblockade kaum noch Lebensmittel zu kaufen gab. Auf dem Speisezettel der Familie standen oftmals Steckrüben in jeder »schmackhaften« Form. Die Steckrübentorte war neben der Torte aus Saubohnen die Festtagsüberraschung. Morgens gab es Hafersuppe, die Mädchen saßen um den Tisch, in der einer Hand den Löffel, mit der anderen fischten sie die harten Spelzen von der Zunge und reihten sie am Tellerrand auf. Besonders scheußlich schmeckten die versalzenen Bohnen, deren Fäden so hart waren wie Zwirn. Stanzi und die Mitglieder im Frauenverein wussten, dass Julia ein Kind erwartete. Eine Haushaltshilfe von Pelikan brachte einen Korb mit Milch, Äpfeln und Kartoffeln in die Zahnarztpraxis und die Kinder fielen hungrig darüber her. Auf der beigelegten Karte stand: »Liebe Frau Bode, habe für Sie diese Nahrungsmittel bekommen und sende sie mit herzlichen Grüßen, ihre Sie liebhabende Elli Beindorff.«
Julia verwahrte die Zeilen in Dankbarkeit zwischen den Briefen ihres Mannes.
Am 10. Februar 1917 wurde Friedegard in der Zahnarztpraxis geboren und Mary Wigman war die Geburtshelferin. Durch die mangelhafte Ernährung während der Schwangerschaft und von der Entbindung geschwächt, hatte Julia keine Muttermilch für ihr Baby und litt unter Sehstörungen. Peter Bade und Stanzi kümmerten sich um den mageren Säugling und ernährten ihn mit Ziegenmilch. Wilhelm Bode, der als Stabsarzt der Bayerischen Sanitäts-Kompanie an der russischen Front stationiert war, schickte einen ausführlichen Feldpostbrief und von Elli Beindorff traf ein Kärtchen ein, auf dem sie »Alles Gute für das kleine Prinzeßchen, und baldige Genesung für die Mutter« wünschte. Hermanns Bruder Karl hatte ein gleichaltriges Kind, das sie Friedrich tauften. Die beiden Babys lagen nebeneinander in einem Waschkorb, als die Hebamme zu einem Hausbesuch kam. Die ausgemergelten Körperchen mit den großen dunklen Augen brachten Julia zum Weinen, auch Elsa war zutiefst besorgt, dass ihre kleine Schwester sterben könnte. Karl nahm seine Schwägerin in den Arm und sagte: »Tröste dich, unser Schicksal liegt in Gottes Hand.«
Währenddessen fand Bode in der Villa Nordsee an der Knyphausenstraße eine kleine Wohnung, sodass der Rest der Familie nachkommen konnte. Julia, Erkengard und Elsa packten ihre Habseligkeiten in einen Pappkoffer, die kränkliche Friedegard blieb bei Stanzi und Peter Bade. Ende Februar fuhren die drei mit dem Zug nach Bremen und von dort mit einem Pferdefuhrwerk nach Norddeich, um ein kleines Fährschiff zu besteigen, welches sie auf die Insel Norderney übersetzen sollte. Wegen der stürmischen See kam das Motorboot nur langsam voran und plötzlich setzte ein eisiger Schneesturm ein, sodass die Reisenden nichts mehr sehen konnten, außer den großen grauen Wellen, auf denen das Schiff auf und nieder schaukelte. Der schneidende Wind ging ihnen durch Mark und Bein und Julia hielt in jedem Arm ein weinendes Kind. Die Mutter war sich sicher, dass sie hinter der nächsten Schaumkrone ertrinken würden. Am Ruder saß der bewegungslose Fischer mit einem schwarzen Südwester und einer schwarzen Pelerine und sah aus wie der Tod, der sie über den Styx bringen sollte. Fatalistisch akzeptierte Julia den unvermeidlichen Untergang und betete laut zu Gott, der ihre Zuflucht war. Nach einer