"Ich habe einfach geraten. Annette passt zu dir."
"Du nimmst mich auf den Arm!"
"Was willst du?"
"Ich ..." Sie stockte und brach ab. Ich hörte ihren Atem durch den Hörer. Der Akustik nach schien sie aus einer Telefonzelle heraus anzurufen. "Ich habe etwas bei dir vergessen", sagte sie dann. "Meine Handtasche."
"Ich weiß."
"Ich brauche sie ziemlich dringend!"
"Du kannst ja kommen, um sie dir abzuholen!"
Ich sagte ihr nichts davon, dass die Tasche längst im Besitz der Polizei war, denn ich dachte, dass ich so vielleicht etwas mehr von dem erfahren konnte, was hier gespielt wurde − auch mit mir.
Ich war längst ein Teil dieser ganzen Affäre geworden, viel mehr, als mir gefiel, und auch viel zu sehr, als dass es mich nicht zu interessieren brauchte.
Und wenn ich ehrlich war, lag das auch keineswegs nur an Rehfeld und seinen Hirngespinsten. Es war gewissermaßen Zufall. Schicksal, wenn man ein vornehmeres Wort verwenden will.
"Ich kann nicht zu dir kommen!", sagte sie.
"Warum nicht?"
"Weil ..."
Sie stockte wieder. Offenbar hatte sie ihre Ausreden nicht sorgfältig genug vorbereitet. Oder es war nur geschickte Schauspielerei.
Ich wusste es nicht. Es war mir im Augenblick auch gleichgültig. "Na?"
"Ich vermute, dass das Haus, in dem du wohnst, unter Beobachtung steht", erklärte sie dann mit fester Stimme.
"Weshalb?"
"Wäre doch logisch, oder?"
"Du meinst die Polizei?"
"Wenn ich Kriminalkommissar wäre, würde es mich brennend interessieren, wer zu Lammers oben in die Wohnung will!"
Wo sie Recht hatte, hatte sie Recht. Was sie sagte, war wirklich einleuchtend.
Vielleicht hatte Rehfeld tatsächlich jemanden abgestellt, um das Haus zu beobachten. Aber nicht wegen der Wohnung des Ermordeten.
Nein, höchstens meinetwegen ...
"Bei deinem ersten Besuch hier hat dich das allerdings wohl kaum gestört", gab ich zurück.
"Ist ja auch beinahe ins Auge gegangen!"
"Jetzt erzähl mir nicht, dass das Polizisten waren, die dich abmurksen wollten!"
Sie ging darauf nicht ein. Stattdessen fragte sie: "Was ist, können wir uns irgendwo treffen?"
Jetzt war für mich der Augenblick der Wahrheit gekommen. Ich konnte ihr sagen, wo die Handtasche war und dass sie sich an die Polizei wenden möge, um sie wiederzubekommen. Dann wäre ihr Interesse an einem Treffen mit mir vermutlich gleich null gewesen − ebenso wie meine Chance, etwas mehr über die Sache zu erfahren.
Ich würde sie vielleicht nie wiedersehen, was mir andererseits vielleicht manchen Ärger ersparte.
Wenn ich mit ihr zusammentraf und Rehfeld bekam Wind davon − auf welch phantastischen Wegen auch immer −, hatte ich mit einem Schlag seine gesamten Vorurteile gegen mich bestätigt.
Ich beschloss, das Risiko einzugehen.
Vielleicht war auch ein Schuss Abenteuerlust dabei. Ich dachte in jenem Augenblick nicht weiter darüber nach, sondern fragte, wo wir uns treffen sollten.
Sie nannte mir ein Stehcafé in der Stadt, das ich auch kannte.
In einer halben Stunde, so machten wir es ab.
"Du wirst als Erster dort ankommen", sagte sie. "Warte dort auf mich!"
"Reichlich konspirativ, was?"
"Vergiss die Tasche nicht!"
Ich legte auf.
Bis in die Innenstadt war es nur ein paar Minuten mit dem Wagen.
Ich hatte also mehr als genug Zeit. Ich ging zum Fenster und blickte hinaus. Es interessierte mich einfach, ob sie mit ihrer Behauptung Recht hatte, dass dieses Haus beobachtet wurde.
Zu beiden Seiten der Straße parkten Autos, darunter irgendwo auch mein gebrauchter Fiat.
Ich schaute mir jedes Auto genau an, obwohl es aus meiner Perspektive zumeist nicht ganz einfach zu beurteilen war, ob jemand drin saß oder nicht.
Und dann sah ich den schwarzen Mitsubishi ...
17
Von meinem Fenster aus hatte ich das Nummernschild nicht sehen können, und als ich die Treppe hinunterstieg, sagte ich mir, dass es Tausende von schwarzen Mitsubishis gab und der, den ich gesehen hatte, nicht unbedingt mit jenem identisch sein musste, den die beiden Kerle benutzt hatten, vor denen die Friedrichs geflohen war. Als ich draußen war, warf ich nur einen kurzen Blick in Richtung des Mitsubishi. Aber für mich genügte diese eine Sekunde, um zu sehen, wer hinter dem Steuer saß und direkt in meine Richtung blickte.
Es waren Flash Gordons trübe Augen. Sein etwas mickriger geratener Partner war nicht dabei. Vielleicht hatte er sich irgendwo in der Nähe postiert.
Ich entschied mich dafür, so zu tun, als hätte ich nichts bemerkt, was mir einigermaßen gelang, wie ich mir einredete.
Außerdem war der Kerl ja hinter der Friedrichs her. Und nicht hinter mir.
Jedenfalls war mir beim Anblick des blonden Riesen erst einmal wohler, als wenn ich, sagen wir Rehfeld oder Müller-Sowieso vorgefunden hätte, denn die hätten es mit Sicherheit auf mich abgesehen gehabt.
Mein Fiat stand auf der anderen Straßenseite, und dorthin zu gelangen, war nicht so einfach, wie es sich zunächst anhören mag. In zwei Etappen kam ich schließlich heil über die Straße.
Ein BMW-Fahrer zeigte mir den Vogel.
Zum Glück hatte er hier keine Gelegenheit, anzuhalten und auszusteigen, wollte er nicht Gefahr laufen, von den nachfolgenden Automobilisten dafür gelyncht zu werden.
Spannungsromanen wird ja oft ein Hang zur Gewalt nachgesagt, und zwar mit Vorliebe von Leuten, die solche Romane gar nicht lesen.
Dabei ist alles das, was man dort in dieser Richtung finden kann, mehr als harmlos dem gegenüber, was man mitunter direkt vor der eigenen Haustür vorfindet.
Man nehme eine Filmkamera und lasse sie − vorzugsweise während der Rush Hour − anderthalb Stunden lang auf jene Fahrbahn gerichtet laufen, die ich gerade überwunden hatte.
Das Resultat könnte durchaus ein Spielfilm sein, zu dem der Titel Gnadenlose Wölfe so gut passt wie die Faust aufs Auge oder ein Fiat Uno unter das Hinterrad eines Zwanzig-Tonners.
Ich ließ den Fiat an und fädelte mich in den Verkehr ein. Und − o Wunder! − der kahlgeschorene blonde Todesengel in dem schwarzen Mitsubishi tat dasselbe und fuhr zu allem Überfluss auch noch in dieselbe Richtung wie ich, was für ihn gar nicht so einfach war, weil er dazu auf die ihm gegenüberliegende Fahrbahn wechseln musste.
Und das war auch der Hauptgrund, weshalb es mir überhaupt auffiel, dass er mir folgte.
Er hupte nämlich wie wild, als ihn niemand vorbeilassen wollte. Kein Zweifel, Flash Gordon wusste, wie man sich im Straßenverkehr durchzusetzen hatte!
Dir möchte ich nicht in der Rush Hour begegnen, dachte ich bei mir. Eigentlich wollte ich ihm überhaupt nicht begegnen.
Er war ziemlich dreist.
Irgendwo quietschten Bremsen, aber ich konnte nicht hinschauen, sonst hätte es an einer meiner Stoßstangen womöglich gekracht, und das wollte ich verständlicherweise vermeiden.
Ich schaute in den Rückspiegel und sah, dass zwischen ihm und mir gut ein halbes Dutzend Pkw waren.
Er