Ohne groß nachzudenken, löste er seinen Gurt und sprang auf. »Bitte komm jetzt endlich, Lucie«, sagte er und packte sie am Arm. »Setz dich wieder hin!«
»Keine Lichter«, murmelte sie. »Wie ein Garten Eden.«
»Was?«
Außer den dunklen Wolken und vorbeifegenden Baumwipfeln war nicht viel zu erkennen. Die Erdoberfläche war jetzt sehr nahe.
»Höchstens noch eine Minute«, sagte er mit einem Anflug von Panik. »Es wird uns die Füße unterm Hintern wegfegen, wenn wir nicht angeschnallt sind. Willst du, dass wir durch den Gang segeln?«
Doch Lucie schien sich der Gefahr gar nicht bewusst zu sein. Hatte sie ihm überhaupt zugehört?
»Wieso brennen da keine Lichter?«
»Scheiße, Lucie, komm endlich.« Er riss sie herum und zog sie auf ihren Sitz zurück, wo er ihren Gurt zuschnappen ließ. Keinen Moment zu früh war er wieder an seinem Platz. Kaum war sein Gurt eingerastet, setzte die Maschine krachend auf.
Jem wurde nach vorne geschleudert, wieder zurück und hin und her. Er packte die Vorderlehne, beugte seinen Kopf vor und schloss die Augen. Die Angst schürte ihm die Kehle zu. Er spürte, wie das Flugzeug ein paar Meter in die Luft stieg, nur um dann mit noch größerer Heftigkeit auf dem Boden aufzusetzen. Die Erschütterungen fuhren ihm durch Mark und Bein.
Der Lärm war ohrenbetäubend. Gepäckfächer sprangen auf und ließen einen Hagel aus schweren Gegenständen auf die Köpfe der Passagiere niederregnen. Die Leute fingen an zu schreien, die Geräusche waren so furchtbar, dass Jem sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Rote Lichter flammten auf und ein nervenzerfetzendes Alarmsignal erklang. Als die Klappen aufgingen und die Sauerstoffmasken herauspurzelten, brach Panik aus.
Und auch Jem hatte keinen Zweifel: Das war das Ende. Noch nie in seinem Leben war er sich so hilflos und ausgeliefert vorgekommen. Was immer hier vorging, eine normale Landung war das gewiss nicht.
Noch immer polterte die Maschine mit einem Affenzahn über die Landebahn. Ein heftiger Schlag ließ das Flugzeug erzittern. Es brach seitlich aus, kam vom Runway ab und pflügte über eine Wiese. Durch die Fenster sah Jem Laub und Zweige an ihnen vorbeifegen. Dann kippte die Maschine seitlich weg. Die einseitige Belastung ließ sie auf eine Tragfläche sacken und schleuderte sie herum wie ein wild gewordenes Karussell.
Knirschend rutschte das stählerne Ungetüm über den Runway, wo es endlich zur Ruhe kam. Ein ersterbendes Winseln, ein letztes Rumpeln, dann wurde es still.
Die Luft stank entsetzlich verbrannt. Der Rauch reizte Jems Atemwege, sodass er husten musste. Er wollte raus, nur weg hier, und da war er nicht der Einzige. Die Leute lösten ihre Gurte und drängten nach vorne, in kürzester Zeit waren die Gänge verstopft. Ruhig bleiben, ermahnte Jem sich selbst. Sein Herz raste, in seinem ganzen Leben hatte er noch nie eine solche Angst gehabt. Todesangst. Auch er hatte den Impuls aufzuspringen, um dieser Hölle so schnell wie möglich zu entkommen.
»Ich will hier raus!«, kreischte eine Frau, die an einem der Notausgänge gesessen hatte. Sie hämmerte so lange mit den Fäusten gegen die Tür, bis die Frau neben ihr sie wieder zurück auf ihren Platz zog.
»Meine Damen und Herren, ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit!«, ertönte plötzlich wieder die Stimme des Kapitäns durch den Lautsprecher. Jem verstand kaum ein Wort, da jetzt neben ihm ein Mann mit einem Kind auf dem Arm stand, das wie am Spieß schrie.
»Das Bordpersonal wird nun die Notausgänge öffnen«, fuhr der Kapitän fort. »Bitte kümmern Sie sich um Ihre Nachbarn und helfen Sie anderen beim Aussteigen. Durch das Ausfahren der Türen werden sich automatisch die aufblasbaren Notrutschen entfalten. Sollten Ärzte an Bord sein, bitte ich diese, mit der Behandlung der Verletzten zu beginnen, sobald wir den vorgeschriebenen Sicherheitsabstand zum Flugzeug erreicht haben.«
In ebendiesem Moment öffnete das Bordpersonal die Notausstiege. »Ich darf Sie nun bitten …«, rief einer der Stewards, doch weiter kam er nicht, da er von den Passagieren zur Seite gedrängt wurde.
Jem berührte Lucie am Arm. »Alles okay bei dir?«
Sie sah ihn nur kurz an, dann wandte sie sich ohne ein Wort ab und reihte sich zwischen die anderen Passagiere ein.
»Kommt jetzt, raus«, sagte Olivia und schob sich an ihm vorbei. »Ich habe keinen Bock, dass uns diese Kiste noch unterm Hintern explodiert.«
Ein paar Minuten später standen sie auf dem Runway. Jem war erleichtert, dass er es einigermaßen unbeschadet aus dem Flugzeug geschafft hatte. Als er jetzt einen Blick zurückwarf, wunderte er sich, dass nichts Schlimmeres passiert war. Überall stieg Rauch auf und der linke Flügel wirkte, als wäre er in der Mitte durchgebrochen.
Instinktiv hielt Jem Ausschau nach einem roten Zopf, doch er konnte Lucie zwischen den vielen Passagieren nirgends ausmachen. Es fiel ihm jedoch etwas anderes auf. Das Flugfeld schien stillgelegt zu sein. Der Beton war rissig und hohes Gras wucherte aus den Spalten. Pfützen ließen darauf schließen, dass es hier vor Kurzem heftig geregnet hatte. Jem konnte sich kaum vorstellen, dass das hier der Denver International Airport sein sollte, auf dem jeden Tag Hunderte von Flieger landeten. Vereinzelt lag Müll herum. Uralte Dosen, ein Eimer, sogar ein Einkaufswagen, dessen Rahmen nur mehr aus dünnen, rostigen Streben bestand.
Der Jumbo lag wie ein totes Tier auf der Seite. Den würde so bald niemand in die Luft bringen. Jem entdeckte Olivia und Paul und ging zu ihnen hinüber.
Inzwischen hatte sich die Sonne endgültig verabschiedet. Über ihren Köpfen leuchteten die ersten Sterne. Die schreckensbleichen Gesichter der anderen Austauschschüler glommen wie Sumpflichter in der Dämmerung.
»Das war ja was«, sagte Paul. »Ich habe echt geglaubt, jetzt ist es vorbei. Finito, sayonara, hasta la vista, Baby.« Er lachte nervös und zog seine Weste zurecht.
Jem nickte nur, dann sah er sich wieder um. »Wisst ihr zufällig, wo Lucie steckt?« Irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie sauer auf ihn war. Aber warum? Weil er sie vorhin vielleicht eine Spur zu grob auf ihren Sitz zurückbugsiert hatte?
Olivia deutete mit dem Kopf nach links. Ein paar Meter weiter stand Lucie bei Marek und den anderen Mädchen. Jem spürte einen kleinen Stich, denn offensichtlich legte Lucie keinen besonderen Wert auf seine Gesellschaft.
Er wandte seinen Blick wieder ab. »Wo sind wir hier eigentlich? Wieso sind hier keine Lichter?«
»Wenn ich das wüsste«, sagte Paul. »Der Runway sieht aus, als wäre er hundert Jahre alt. Schaut euch mal den Beton an, der ist total bröselig. Ist echt ein Wunder, dass wir überhaupt heil runtergekommen sind. Ich frage mich, wie der Kapitän auf die Idee gekommen ist, ausgerechnet hier zu landen.«
»Das würde mich auch interessieren«, sagte Olivia. »Der Denver International Airport ist ja nun nicht gerade ein Provinzflughafen. Der strahlt doch wie ein Weihnachtsbaum. Wie kann man den bitte verpassen?«
»Jedenfalls ist es hier verdammt düster.« Jem reckte den Hals. »Vermutlich sind wir meilenweit vom Kurs abgekommen.«
»Dahinten sind einige Gebäude«, sagte Paul. »Scheinen aber leer zu stehen, jedenfalls ist dort auch alles dunkel.«
Jem fiel plötzlich Lucies Bemerkung ein, als sie sich wie hypnotisiert zum Fenster hinübergebeugt hatte. Keine Lichter.
»Der Form nach könnten es Flughafengebäude sein«, murmelte er. »Allerdings vermute ich, dass der richtige Flughafen ganz woanders liegt.«
Plötzlich erschien Arthurs bleiches Gesicht in der Dunkelheit. Er hatte seine Nickelbrille abgenommen, weshalb Jem ihn fast nicht erkannt hatte. »Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine so sternklare Nacht gesehen zu haben«, sagte Arthur.
Jem blickte nach oben. »Schön …«
»Schön, ja. Aber auch sehr ungewöhnlich.«