Auf Maziroc übte die Reise eine sichtlich belebende Wirkung aus. Schon seit Aylon ihn kannte, hatte sich der Magier allzu oft in der Rolle des Schwarzsehers und ernsthaften, düsteren Mahners gefallen, doch nun zeigte sich so munter und gut gelaunt wie lange nicht mehr, entwickelte gelegentlich sogar Anflüge eines kauzigen Humors. "Früher bin ich fast ständig unterwegs gewesen", erzählte er, als sie auch am zweiten Abend wieder in einem Gasthaus einkehrten und der Wein seine Zunge zu lockern begann. "Ich habe mich in beinahe jedem Winkel Arcanas herumgetrieben. Irgendwann bin ich dann nach Cavillon zurückgekehrt und habe mich dort niedergelassen, um mein Wissen weiterzugeben. Ich habe geglaubt, ich wäre zu alt, um noch zu reisen, aber das war wohl ein Irrtum."
"Und wie alt bist du nun eigentlich?", erkundigte sich Aylon. Er hatte gehofft, Maziroc überrumpeln zu können, doch wie die Male zuvor, erhielt er auf diese Frage nur ein mildes Lächeln zur Antwort.
Anders als zu Beginn ihrer Reise mieden sie auch tagsüber nicht mehr die Dörfer, die auf ihrem Weg lagen. Aylon vermutete, dass aufgrund der Geschicklichkeit, mit der er mittlerweile die mentale Ausstrahlung eines Menschen nachzuahmen verstand, ohne überhaupt noch daran zu denken, Maziroc es nicht mehr für nötig hielt, ihn vor anderen zu verstecken.
Von den Bewohnern Largons schien niemand etwas von dem nächtlichen Kampf bemerkt zu haben. Auch der Damon war seither nicht mehr zu sehen gewesen. Offenbar hatte das Trugbild ihn in solche Angst versetzt, dass er aus dieser Gegend geflohen war. Aylon hatte die Nacht durchgeschlafen und sich längst von der Erschöpfung erholt, als er am nächsten Morgen aufwachte, dennoch war es ihm eine Lehre, sich seine erst schwach entwickelten magischen Kräfte in Zukunft sorgsamer einzuteilen. Seither hatte er darauf verzichtet, weitere Versuche mit Charalons Reif anzustellen, und er war immer noch nicht überzeugt, ob er wirklich richtig gehandelt hatte. Sicher, es war ihm gelungen, den Damon auf friedlichem Wege zu vertreiben, aber das Problem bestand deshalb dennoch fort. Die Bestie würde sich nicht ändern, würde auch weiterhin unschuldige Menschen anfallen, und ihre nächsten Opfer würden sich möglicherweise nicht gegen sie verteidigen können. Oft grübelte er über diesen Gewissenskonflikt nach, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Hatte er das Recht, ein fremdes Wesen, ein Tier, zu töten, um dadurch eventuell das Leben von Menschen zu retten? Und wenn er es getan hätte, wäre es dann nicht konsequent, vorbeugend eine Treibjagd auf alle Raubtiere zu eröffnen, um sie auszurotten, bevor sie jemandem gefährlich werden konnten?
Es war eine logische Kette, die ins Absurde führte, doch er fand keinen Punkt, sie zu unterbrechen.
Aber nicht nur dieser Gedanke bereitete ihm seit dem Abend in Largon Sorgen. Aylon spürte etwas tief in sich, ein ungewisses Drängen, dass ihn mit geradezu magischer Kraft nach Maramon zog. Er wusste nicht, ob es mit dem Reif zusammenhing oder einfach nur die Vorfreude auf das war, was ihn erwartete, aber bei jeder Rast fühlte er sich bereits nach einigen Minuten unruhig, und seine Ungeduld schwand erst, wenn sie sich wieder auf den Weg machten. Etwas erwartete ihn, lockte ihn. Einige Male hatte er Maziroc davon erzählen wollen, dann aber doch geschwiegen, aus einem Grund, der ihm selbst nicht recht klar war. Erst als sie gegen Mittag des sechsten Tages Maramon erreichten, hörte das stumme Locken so plötzlich auf, wie es gekommen war.
Von einem Hügel aus blickten sie auf die Stadt hinunter. Aylon ließ sich Zeit, das Bild in sich aufzunehmen. Die Stadt war völlig anders, als er sie sich ausgemalt hatte. Nicht enttäuschender oder prachtvoller, weder größer noch kleiner, sondern einfach nur anders. Bislang hatte er keine andere Stadt als Cavillon gesehen und sich so etwas wie eine vergrößerte Ausgabe davon vorgestellt. Cavillon jedoch war ein homogenes, nach vorgefertigten Plänen in einem Guss errichtetes Bauwerk, während Maramon im Laufe von Jahrhunderten natürlich gewachsen war; anfangs vermutlich nicht mehr als eine Festung, vor deren Toren ein Dorf entstanden war, das mit der Zeit größer und bedeutungsvoller und schließlich zu einer Stadt geworden war. Es gab keinen einheitlichen Baustil, nicht einmal eine Symmetrie in der Anordnung der Gebäude, sondern alles machte einen wirren, ungeordneten Eindruck. Dazu trug noch bei, dass es keine Stadtmauer gab. Es hatte einmal eine gegeben, mehrere sogar, deren Überreste sich noch an einigen Stellen zwischen den Häusern entdecken ließen, aber sie waren von der sich immer weiter ausdehnenden Stadt überwuchert worden. Irgendwann hatte man wohl eingesehen, dass es keinen Sinn hatte, immer weitgezogenere Mauern zu errichten, wenn spätestens nach ein oder zwei Jahrzehnten der Platz doch wieder zu eng wurde und außerhalb von ihnen neue Gebäude entstanden.
Im Herzen der Stadt erhob sich die ursprüngliche Festung, ein wuchtiger, gedrungener Klotz, der einst sicherlich eine wehrhafte Burg gewesen, nun jedoch mehr Ähnlichkeit mit einem Schloss hatte. Die ehemaligen Befestigungsanlagen waren an vielen Stellen ganz entfernt, an anderen so umgebaut oder bepflanzt worden, dass sie nur noch zur Zier dienten, ohne ihrer eigentlichen Aufgabe noch gerecht zu werden. Wozu auch? Larquina war ein riesiges Reich, das seit ewiger Zeit keinen Krieg mehr geführt hatte. Eine Bedrohung wie durch die Damonen hatte noch vor wenigen Jahren niemand vorhersehen können. Nachdem man schon vor tausend Jahren geglaubt hatte, diese Gefahr wäre endgültig gebannt, hatte sich vor rund zwei Jahrzehnten eine neue Weltenbresche geöffnet. Es hieß, dass auch sie vernichtet worden wäre, doch das hatte sich als ein folgenschwerer Irrtum herausgestellt. Zwar war die Weltenbresche beschädigt, aber nicht zerstört worden, und noch immer gelangten auf diesem Weg neue Damonen nach Arcana.
Aber daran wollte Aylon jetzt nicht denken, zu sehr beeindruckte ihn das, was er sah. Maramon quoll fast über vor Menschen. Wohin er auch blickte, sah er Bewegung, die Straßen und Plätze waren ein Meer schwerfällig wogender Köpfe und Kleidungsstücke, jedenfalls im Zentrum. "Es dürfte schwer werden, noch ein freies Zimmer zu bekommen", murmelte er. Auf einer großen Wiese am Rande der Stadt waren bereits annähernd hundert Zelte aufgeschlagen worden.
"Keine Sorge, wir werden nicht in einem Gasthof übernachten", antwortete Maziroc. "Ich habe Freunde hier, bei denen wir unterkommen können."
"Ishar?"
"Nein. Es gibt zwar eine starke Abordnung unseres Ordens hier, aber sie nehmen kaum am höfischen Leben teil und könnten dir in dieser Hinsicht nicht viel beibringen. Ich habe ihnen jedoch eine magische Botschaft geschickt, damit sie Baron Brass unser Kommen melden. Er ist einer der Berater Fürst Argars."
Sie ritten in die Stadt hinein, wobei sie sorgsam die großen, belebten Straßen mieden, um schneller voranzukommen. Kaum jemand nahm Notiz von ihnen. Magier schienen hier zum gewohnten Bild zu gehören. Erst als sie sich der Festung bereits ein gutes Stück genähert hatten, mussten sie absteigen und die Pferde führen, weil das Gedränge zu stark wurde. Der Marktplatz wimmelte nicht nur vor Menschen, sondern Händler hatten auch überall ihre Stände aufgeschlagen. Es gab so viel zu entdecken, dass Aylon kaum wusste, wo er zuerst hinschauen sollte. Mehrmals stieß er mit anderen Passanten zusammen, weil er nicht aufpasste.
"Du kannst dir später noch alles ansehen", ermahnte ihn Maziroc. "Jetzt pass lieber auf, wo du gehst."
Vor dem geöffneten Tor der Festung standen mehrere Wachen in blauen Uniformen und verwehrten den Schaulustigen den Zutritt. Einer von ihnen wollte auch Maziroc zurückscheuchen, erkannte dann aber, dass er einen Ishar vor sich hatte und erkundigte sich stattdessen in plötzlich wesentlich freundlicherem Tonfall, wohin sie wollten. Von hinten näherten sich ihm zwei jüngere Ishar. "Schon gut. Wir erwarten ihn bereits", erklärte einer von ihnen. Der Wachposten gab bereitwillig den Weg frei.
Aylon machte sich nicht einmal die Mühe, sich die Namen der beiden Ishar zu merken, die Maziroc ihm als ehemalige Schüler vorstellte. Sie winkten einen jungen Burschen herbei und beauftragten ihn, die Pferde in den Stall zu bringen. Während sie durch lange Korridore und riesige Hallen schritten, lauschte Aylon dem Gespräch der drei Magier nur mit einem Ohr. Er hatte ein düsteres Gemäuer erwartet, doch so wie man sich bemüht hatte, dem Äußeren der Festung ein freundlicheres Aussehen zu verleihen, war auch ihr Inneres mit geradezu verschwenderischem Prunk ausgestattet. Durch eine Vielzahl von Fenstern fiel helles Tageslicht herein. Die Menschen, an denen sie vorbeikamen, trugen Gewänder, die zweifelsohne vornehm und aus teuren Stoffen gefertigt, für Aylons Geschmack jedoch entschieden zu bunt und mit zu viel unnötigem Zierrat