Geliebte Zwillingsschwester. Trutz Hardo. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Trutz Hardo
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347100947
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warnen müsste, falls er zufällig in ihrem Krankenhaus seine Stelle übernehmen sollte. Dann lief uns auf dem Flur die Sekretärin des Chefs entgegen. Und sie lächelte etwas, wie ich meine, süffisant. Hat sie unser Gespräch mit dem Chef etwa doch mitbekommen? Oder hatte sie vielleicht ebenfalls eine Affäre mit …? Ich wage es nicht auszudenken. Attraktiv ist sie ja. Mit wie vielen von uns Krankenschwestern hat er wohl schon angebändelt? Männer sind in erster Linie Körper und Frauen sind in erster Linie Seele. Wer von den Männern die Seele einer Frau zu rühren weiß, dem schenkt sie auch gerne ihren Körper. Hat diesen Satz schon jemand anderes gesagt, oder ist er jetzt gerade in meinem Kopf entsprungen? Wie dem auch sei. Aber auf jeden Fall habe ich erst einmal keinen Bedarf an Sex mit Männern. Soll ich es einmal mit einer Frau versuchen? Aber dazu habe ich keine Antenne, obwohl wir, du, William und ich zusammen auch geschlechtliche Wonnen erlebten.

      Ich grüße euch beide aus dem kalten Berlin.

      Eure Leo.

      ***

       9.2.2014

       Meine geliebte Zwillingsschwester, meine Tara!

      Heute erhielt ich eine Postkarte von Felicitas. Sie sagt, dass dies der schönste Urlaub ihres Lebens sei. Und indirekt hat sie diesen dem Dr. Dudszinski zu verdanken. Wie doch alles Widrige auch zufällig im Nachhinein positive Seiten aufweisen kann. Vielleicht sind ja alle Schicksalsschläge im Grunde wichtig und daher richtig. Aber derlei Erkenntnisse werden uns erst im Jenseits offenbart. Du schriebst, dass du bei einem Ausflug nach Adelaide von einer Wespe in den Hals gestochen wurdest. Denn ich fühlte auf einmal vor ein paar Tagen plötzlich einen schmerzlichen Stich an meinem Hals, ohne dass mich etwas gestochen haben könnte. Das muss in demselben Augenblick geschehen sein, als du gestochen wurdest. Wir haben ja hin und wieder, obwohl wir dann nicht beieinander sind, Parallelschmerzen. Weißt du noch, als du dir als Sechsjährige beim Bäumeklettern und Runterfallen den Fußknöchel verstaucht hattest, und ich, die ich bei unserer Tante weit weg weilte, hatte plötzlich ebenfalls schlimme Schmerzen in meinem Fußgelenk? Und dann auch noch bei Tante Frieda, als ich die Kellertreppe runterfiel und blutüberströmt zum Arzt musste, der mich sofort ins Krankenhaus bringen ließ, damit auf der Unfallstation die noch offene Wunde am Kopf genäht wurde. Und du verspürtest auf einmal zu Hause einen großen Schmerz am Kopf, so dass du dich hinlegen musstest. Ist es nicht eigenartig, dass wir eineiigen Zwillinge auch über weite Distanzen miteinander verknüpft sind, und zwar nicht nur im Seelischen, sondern auch im Körperlichen? Ich möchte mal gerne herausfinden, warum wir Zwillinge geworden sind. Haben wir uns das selbst ausgesucht oder haben höhere Geister aus welchen Gründen auch immer es so verfügt?

      Elisabeth wollte mich dazu überreden, mit ihr mal wieder Tanzen zu gehen, um vielleicht dort einen netten Typen kennenzulernen. Aber dazu habe ich überhaupt keine Lust. Ich muss erst einmal die ganze Dudszinski-Story begraben. Sie geht mir immer noch durch den Kopf. Männer, Männer, warum seid ihr so unsensibel, so plump, so direkt? Habt ihr denn gar keinen Sinn für Romantik? Ich muss mal wieder ein Gedicht schreiben. Ich schreibe eine Zeile, lasse dann die nächste aus, und du setzt dann die zweite Zeile wie früher ein. Dann werden wir sehen, was daraus entstanden sein wird.

      Ich liebe euch beide und hoffe, dass wir uns vielleicht schon in diesem Jahr wiedersehen. Doch der Flug dahin ist sehr teuer. Da muss ich erst noch ganz schön sparen.

      Gruß und Kuss von eurer Leo

      ***

       15.2.2014

       Meine geliebte Zwillingsschwester, meine Tara!

      In der vergangenen Sonntagsausgabe habe ich ein Gedicht gelesen, das mich im Innersten anrührt. Ich habe es schon längst auswendig im Kopf. Und oft wiederhole ich es und spreche es flüsternd vor mich hin. Manches Mal habe ich auch geweint. Warum rührte es mich so an? Haben manche Gedichte magische Kräfte? Ist ein wirklicher Dichter auch insgeheim Magier, Magier der Worte, des Ausdrucks und natürlich des Inhalts? Ich möchte mal wirklich einen Dichter kennenlernen, um herauszufinden, woher er seine magischen Kräfte bezieht. Denn unsere eigenen Gedichte, um es mal deutlich zu sagen, sind Stümpereien. Aber vielleicht sind das kleine Vorbereitungen für ein späteres Leben, wo wir dann nach und nach mit jedem weiteren Leben immer mehr von der Muse der Dichtung bedacht werden. Und wenn wir dann in ferner Zukunft wiedergeboren werden sein sollten, wenn auch ohne verwandtschaftliche Bindungen, dann werden wir wieder von einander lesen und von der Muse der Dichtung zueinander geführt werden, genauso wie Schiller zu Goethe hingezogen wurde. Und hier maile ich dir nun das Gedicht.

      Der Dichter

       Der Dichter ist der Menschheit Brunnen

       in den so manche Träne fällt

       und unsere Augen werden lichter

       durch Glanz, den er in Händen hält.

       Erahnt er doch, was uns verdrießet,

       erfühlet er des Menschen Schmerz.

       Macht er nicht, dass die Liebe fließet

       in unser tränenschweres Herz?

       Beugt er sich nicht vor manchem Bilde

       und bittet für uns Linderung?

       Irrt er nicht durch der Welt Gefilde

       und fraget nach des Wehs Warum?

       Sucht er denn nicht für uns den Frieden,

       da ihm sein eigen Ich nichts wert

       und er mit seinem ganzen Lieben

       für unser Glück sich selbst verzehrt?

       Drum weiset ihm ein wenig Güte

       für seine Lieb’ euch zugetan,

       denn seines Liedes Herzensblüte

       kann nur erglüh’n auf eurer Bahn.

       (Verfasser unbekannt)

      Was fühlst du, wenn du es gelesen hast? Lese es immer wieder mit deiner ganzen Seele. Ich bin überzeugt, dass dir auch wie mir Tränen kommen. Warum ist der Verfasser unbekannt? Ich hätte sofort, wenn sein Name genannt worden wäre, alles versucht, um mit ihm Kontakt aufzunehmen. Ja, ein echter Dichter ist Diener der Liebe, der höheren Liebe, versteht sich. Er nimmt großen Anteil an den Kümmernissen der Menschen und versucht herauszufinden, warum alles so ist, wie es sich darstellt. Woher kommt das Leid? Er geht in die Tiefe, um Wahrheiten für uns zu finden. Sein eigenes Ich ist für ihn nicht so wichtig. Wichtiger ist, dem Menschen in seinem Leid seelisch beizustehen, ihn zu trösten, ihm vielleicht auch Antworten zu geben, welchen Sinn das Leid in unserem Leben hat. Die letzte Strophe ist meine Lieblingsstrophe. Ich lasse seines Liedes Herzensblüte gerne in meinem Herzen dankbar erglühen. Denn wahre Dichtungen sind Fingerzeige nach oben. Sie verbinden uns mit dem Göttlichen.

      Liebe Tara, lass mich wissen, wie dieses Gedicht auf dich wirkt.

      Ich schicke euch meine innigsten Umarmungen.

      Eure Leo

      ***

       17.2.2014

       Geliebte Zwillingsschwester, meine Tara!

      Es hat mich gefreut in deiner Mail zu lesen, dass dich dieses Gedicht von Unbekannt ebenfalls zu Tränen rührte. Jeder von oben begnadeter Dichter, Musiker und Maler baut uns, die wir dafür empfänglich sind, eine Brücke in die höhere Welt. Diese will uns durch jene Begnadeten ihre Liebe zuteilwerden lassen und in uns die Sehnsucht nach Höherem, nach dem Göttlichen wecken.

      Übrigens ist Felicitas braungebrannt wieder auf die Station zurückgekehrt. Sie hat dem Professor aus Dank CDs mit Flamencomusik mitgebracht und ein in Deutsch geschriebenes