Die gestohlene Stadt. Jürgen Matz/ Sarah Rubal. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jürgen Matz/ Sarah Rubal
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783749732760
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mit dem mächtigen romanischen Turm und ihren vier auffälligen, barocken Ecktürmchen.

      Am Brempter Hof, einer bröckelnden, mittelalterlichen Anlage, mit einem kleinen verwunschenen Garten, legte er eine kurze Pause ein. Nicht weit von ihm dösten zwei Bettler in der Sonne. Das Elend war auch in Uerdingen gegenwärtig, hervorgerufen durch den Krieg und die seit Jahren grassierende Inflation. Die Armenküchen der Städte wurden Tag für Tag von Bedürftigen geflutet, das war in München-Gladbach nicht anders gewesen.

      Seit etwa 15 Jahren verkehrte entlang der Ober- und Niederstraße mit Halt am Rathaus, die elektrische M-Bahn von Düsseldorf nach Moers. Am Ende der Niederstraße musste die M-Bahn die Eisenbahngleise von Krefeld nach Duisburg mittels einer »der Berg« genannten Stahlkonstruktion überqueren. Dabei stieg der Stromverbrauch so hoch, dass dies gelegentlich zum Spannungsabfall im gesamten Netz führte. Das war nur eines von vielen Problemen, mit denen sich die Stadtverordneten und zuvorderst der neu gewählte Bürgermeister beschäftigen mussten. Vor kurzem war die offizielle Einführung in sein Amt, es gab eine Menge zu tun. 19 Stadtverordnete und mehr als 10.000 Einwohner erwarteten von ihm, dass er Entscheidungen traf, Streitigkeiten schlichtete, und vor allem Neuerungen anstieß.

      Zu diesem Zweck hatte er auch den sehr beliebten und bereits seit 1911 amtierenden Bürgermeister Krefelds Johannes Johansen zu einem Empfang, in zwei Tagen bei sich nach Hause eingeladen. Es konnte nie schaden, Verbündete über die Stadtgrenzen hinaus zu haben, auch wenn Johansen den Nationalliberalen und den Freikonservativen näherstand als seiner Zentrumspartei.

      Doch rasch verscheuchte Wilhelm die allzu zukunftsgerichteten Gedanken wieder und auch die Politik aus seinem Kopf, heute wollte er nur in Uerdingen ankommen und den Beginn dieses neuen Lebensabschnitts gebührend feiern.

      Nach der kurzen Verschnaufpause folgte er der Straße bis Am Marktplatz, an der sich unter der Nummer 1 das neue Rathaus mit »seinem« Bürgermeisterzimmer befand.

      Es war das erste der drei großen, prächtigen Herberz-Häuser, die das Bild des Marktplatzes maßgeblich prägten, direkt neben der Apotheke, wo die von Wilhelm so begehrten Rheila-Hustenperlen hergestellt wurden und dem ehrwürdigen Amtsgericht Uerdingen.

      Nur hin und wieder erkannte jemand den jungen Bürgermeister, der da pfeifend durch ihre Straßen schritt; wenn es aber geschah, dann lüftete Wilhelm gut gelaunt seinen Hut und grüßte freundlich.

      Schon konnte man, durch ein nur wenig entferntes mittelalterliches Tor, den Rhein sehen, der als mächtiger Strom ruhig an der Stadt vorbeizog und dem die Uerdinger so viel zu verdanken hatten.

      In den sorgsam beschnittenen Platanen auf dem Marktplatz zwitscherten die Vögel, an Ständen boten die Bauern aus der Umgebung ihre Ware an, es herrschte ein fröhliches und ausgelassenes Treiben. Kinder spielten mit ihren Bällen oder scheuchten ein paar entlaufene Hühner zurück in ihre Verschläge. Einige Buben saßen mit ihren kurzen Lederhosen auf den Prellsteinen, die über Generationen deswegen schon blank poliert waren. Gerade hielt hinter Wilhelm mit lauten Klingeln die M-Bahn und Fahrgäste stiegen aus und ein.

      Wilhelms Blick streifte den alten Gasthof »Zur Krone«, der sich unmittelbar vor dem Rheintor befand, dann beschritt er die gut gepflegte Rheinpromenade.

      Im Uerdinger Norden, von den Einheimischen »Braunschweig« genannt, wo die Industriekamine rauchten, machte der Fluss einen sanften Bogen, im Süden aber schlängelte er sich durch die flache Landschaft, die Rheinauen. Direkt vor Wilhelm legte die Ponte, ein rheinischer Begriff für Fähre, an. Es war die einzige Möglichkeit, den Rhein an dieser Stelle zu überqueren. Der Bau einer Brücke wurde seit Jahrzehnten diskutiert, doch es fehlte an Mitteln.

      Einem Impuls folgend schritt Wilhelm zu der Ponte und fragte den Fährmann, ob er ihn hinüberbringen könnte.

      Es war Mittag, so dass sich der Verkehr in Grenzen hielt. Unter der Woche nutzten die Bauern und Handwerker die Ponte, um ihre Waren rüber zu bringen, an den Sonntagen aber fuhren die Uerdinger und auch viele Ausflügler damit gern über den Fluss, um sich an einem Picknick in den Rheinwiesen oder einem Umtrunk in der nahe gelegenen Mündelheimer Dorfkneipe zu erfreuen.

      »Komm ens erop«, sagte der Fährmann auf Uerdinger Platt freundlich und man sah seine vom Priemen dunkelbraunen Zähne. Wilhelm entging nicht, dass der Mann humpelte, vermutlich eine Kriegsverletzung. Er stieg auf die Ponte und stellte sich neben den stattlichen und gewiss wohl auch stolzen Fährmann. Der Rhein floss nur träge, als sei es sogar ihm an diesem Septembertag schlicht zu heiß, um sich zu bewegen. Langsam quälte sich ein tuckernder Dieselschlepper an der Fähre vorbei. Junge Burschen hängten sich an die schweren Lastkähne, um sich rheinaufwärts ziehen zu lassen. Kaum noch zu sehen, ließen sie dann los und trieben jubilierend bis zur anfänglichen Uferstelle.

      Indes wies Wilhelm auf das steife Bein des Fährmanns.

      »Eine Kriegsverletzung?«

      Der Mann verzog das Gesicht.

      »Granatsplitter. Die Schlacht von Verdun. Das Höllenloch.«

      Sein Blick flackerte, dann lächelte er wieder.

      »Aber wer will an einem Tag wie diesem schon darüber nachdenken? Haben Sie auch gedient, mein Herr?«

      Wilhelm senkte den Blick und schüttelte den Kopf.

      »Nicht im Feld«, erwiderte er.

      Wilhelm war als »garnisonstauglich« gemustert worden und studierte nach seinem Abitur bis 1920 meist vom Dienst befreit, die Fächer Nationalökonomie und Rechtswissenschaften. Während er als Pennäler für eine erfolgreiche berufliche Laufbahn lernen konnte, zogen die meisten anderen seiner Altersgenossen an die Front und in das unvorstellbar grausame Gemetzel des Stellungskrieges.

      Hin und wieder betrübte Wilhelm, dass er nicht an der Front war, immerhin gab es kaum einen Mann in seinem Alter, der nicht durch eine Kriegsnarbe geadelt worden war oder zumindest Geschichten aus dem großen Krieg zu erzählen hatte.

      »Seien Sie froh«, sagte der Fährmann gleichmütig und stieß einen Pfiff aus, der wie ein Echo von den Gleisgeräuschen der weit hinter ihnen anfahrenden M-Bahn wiederholt wurde.

      »Da gibt es eine lustige Geschichte zu«, sagte der Fährmann. »Wussten Sie, dass, als der Bau der elektrischen Bahn schon beschlossen war, der alten Dampfbahn kurz vor Uerdingen das Wasser ausging? Der Maschinenführer brachte die Lok noch bis an den Stadtrand, wo er die Kinder anfuhr, dass sie ihm Wasser bringen sollten. Die sind vielleicht gerannt, dass ihnen die Beine flogen. Doch als sie die Eimer auf den Kessel schütteten, da ging das ganze Ding in die Luft. Eine riesige Explosion, bei der glücklicherweise niemand zu Schaden kam.«

      Der Mann lachte schallend. »Das Gesicht von dem Maschinenführer hätte ich nur zu gerne gesehen. Aber jetzt ist ja alles neu, Elektrizität und so. Naja, wozu es gut ist. Immerhin hat man nicht in den Straßen den Qualm und den Dreck von den Kohlen, wie es ja bei der Eisenbahn noch immer üblich ist.«

      Wilhelm nickte freundlich und freute sich über den unerwartet redseligen Mann, der offenbar noch keine Ahnung hatte, wen er hier über den Rhein transportierte.

      Lautes Krakeelen am Ufer erweckte ihre Aufmerksamkeit. Einige »Rhienkadetten«, manche von ihnen in verlumpten, feldgrauen Uniformen, stritten sich lautstark an dem unteren Rheinwerft, schon am frühen Nachmittag erkennbar angetrunken.

      »Das sind wilde Kerle«, sagte der Fährmann, als habe er Wilhelms Gedanken erraten. »Einige von ihnen haben nach dem Krieg einfach nicht mehr ins normale Leben gefunden und schleppen sich irgendwie durchs Leben. Sie leben als Tagelöhner vom Löschen der Schiffe. Kisten und Säcke tragen, Kies und Kohle schaufeln - eine harte Arbeit. Bei jedem Wetter stehen sie in Ihren Unterständen und warten auf Tonnage. Manche ertragen das nur mit `ner billigen Flasche Brandewein«.

      Das Leid der Kriegsversehrten war im Nachkriegsdeutschland alltäglich. Zerschossene Gesichter, fehlende Gliedmaßen, die medizinische Versorgung der Invaliden verdiente diese Bezeichnung nicht. Und so lebten viele seit Jahren mit den furchtbaren Spuren, die der Krieg an ihren Körpern und an ihren Gesichtern hinterlassen hatte.

      Der Anblick der Kriegsveteranen