Der Frühlingsschläfer. Friederike Gahm. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Friederike Gahm
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347079724
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im Jahr auf, nämlich an Weihnachten, wenn mein Vater zum Zeichen des Gedenkens Kerzen ins Fenster stellte. Ich empfand diese Geste als Gefühlsduselei; sie erschien mir peinlich und angesichts der leicht entflammbaren Gardinen nicht ungefährlich. Alle Jahre wieder verfielen mein Vater und ich in eine längere Diskussion über Sinn und Unsinn dieser Aktion. Am vergangenen Heiligabend war das obligate Streitgespräch erstmals ausgefallen, da das Kerzenlicht nicht hinter meinen Schleier aus Verliebtheit dringen konnte. Solchen Leuten wie diesen drei galt also die Kerzendemonstration. Ich dachte, warum eigentlich nicht? Walter hatte inzwischen einen Kellner gefunden und löste mit ihm zusammen das Tischproblem. Kurz darauf wurden wir in das gut besetzte Restaurant geführt. Es war mit Luftballons und bunten Girlanden geschmückt; eine kleine Kapelle spielte. Alles sah genauso aus, wie bei den Fernseh-Silvesterfeiern, aber dieses Mal feierte ich mit.

      Wir bekamen einen Tisch mitten im Lokal zugewiesen. Kaum saßen wir, da glaubte Walter, einige Tische vor sich die Mutter einer Mittelstufenschülerin zu erkennen. Wir standen wieder auf, wechselten die Plätze mit Ulrike und Bernd. Walter saß nun mit dem Rücken zu der vermeintlichen Gefahr. Wir vertieften uns in die Speisekarte. Die Menüfolge klang vielversprechend - kein Karpfen bedrohte meine Silvesterstimmung. Ich hatte Hunger und freute mich auf das Essen. Walter blätterte unschlüssig in der Weinkarte herum, schien nicht recht bei der Sache zu sein, schaute auffallend oft und lange in eine bestimmte Richtung, las in der Karte weiter, sah wieder hoch. Was ist los, frotzelte sein Schwager, sitzt dort vielleicht dein Direktor? Walter lachte gezwungen und entgegnete, es sei nicht ganz so schlimm. Aber er war sich absolut sicher, dass das harmlos aussehende Pärchen zwei Tische weiter die Eltern einer Problemschülerin waren, die ihn erst vor zwei Wochen in der Sprechstunde besucht hatten. Er schlug vor, an einen anderen Platz, möglichst in Ecklage, umzuziehen. Der Kellner wurde gerufen, musste jedoch zu seinem Bedauern mitteilen, dass kein anderer Tisch für fünf Personen frei war. Um Walter zu beruhigen, wandte ich ein, dass diese Eltern mich noch nie gesehen hätten und somit auch die Zusammenhänge nicht kennen konnten. Die anderen pflichteten mir bei, er jedoch zeigte sich von meiner Argumentation nicht überzeugt, reagierte unwillig. Die Mutter der Mittelstufenschülerin schien ihm nun doch das kleinere Übel zu sein. Wir nahmen unsere ursprüngliche Sitzordnung wieder ein. Thomas sächselte vergnügt, ob sich Walter nicht sicherheitshalber unter den Tisch setzen wollte. Alle lachten, nur Walter nicht. In diesem Moment kam die Vorspeise, und das Thema Sitzordnung wurde nicht weiter vertieft.

      Die Mahlzeit verlief schweigsam. Die Unterhaltung bestand im Wesentlichen aus Kommentaren zu den einzelnen Gerichten, beschränkte sich auf ausgezeichnet, sehr gut und sonstige Beifallsbekundungen. Ich sah zu den umliegenden Tischen; dort amüsierte man sich besser. Nach der ersten Flasche Wein lockerte sich die Stimmung endlich. Die Schwester erzählte von ihrem Baby. Walter zollte diesen Berichten patenonkelhafte Aufmerksamkeit. Ich fühlte mich verpflichtet, weibliches Interesse zu mimen, wenngleich ich Kleinkinder eher als schreiende Störenfriede betrachte. Selbstverständlich hob sich der Knabe, von dem gerade die Rede war, entscheidend von seinen Altersgenossen ab; selbstverständlich legte er für einen Einjährigen erstaunliche Intelligenz an den Tag und war in jeder Hinsicht überdurchschnittlich. Ich hörte gelangweilt weg.

      An den anderen Tischen war man mit dem Essen bereits fertig und ging zum Tanzen. Bei uns stand noch die Nachspeise aus, dann wäre der offizielle Teil überstanden, dachte ich. Endlich wurde das Dessert serviert. Die Teller leerten sich löffelweise, wurden wieder abgeräumt. Wir saßen unverändert an unserem Tisch, auf dem jetzt nur noch Gläser standen. Ich wartete und wartete. Alle schienen auf ihren Stühlen angewachsen zu sein. Thomas machte endlich einen Anfang und führte seine Frau aufs Parkett. Ich schöpfte neue Hoffnung. Walter rührte sich nicht; mir riss der Geduldsfaden. Ich fragte vorsichtig, ob wir nicht auch tanzen wollten. Walter brummte, er habe keine Lust. Ich glaubte, nicht richtig gehört zu haben, und wagte ein leises warum nicht? Es blieb unbeantwortet in der Luft hängen. Walter unterhielt sich angeregt mit seinem Bruder. Ich schien nicht vorhanden zu sein, obwohl ich zwischen den beiden saß. Vielleicht war ich aus Glas, unsichtbar und zerbrechlich; vielleicht würde ich zu Scherben zerfallen, wenn ich mit den Knöcheln auf den Tisch schlug. Ich probierte es aus. Leider zerfiel ich zu nichts, sondern blieb sitzen. Vielleicht träumte ich und würde gleich aufwachen, es wäre Silvestermorgen und ich würde mich den ganzen Tag auf einen schönen Abend freuen. Aber nein, auch das nicht, ich wusste genau, dass ich nicht träumte. Ich wollte es nur nicht glauben.

      Die Kapelle machte eine Pause. Thomas und Ulrike kamen vom Tanzen zurück. Er sah gar nicht mehr grau und linkisch aus, sondern wirkte sehr verliebt und glücklich, und sie schien trotz ihres hässlichen Kleides viel besser in den vergnügten Trubel zu passen als ich mit meinem teuren Seidenen. Na, ihr Trantüten, sagte Thomas und sprach es natürlich „Draandüden“ aus, ihr wollt wohl den ganzen Abend hier herumsitzen und dummes Zeugs reden. Mit einem Lächeln in meine Richtung meinte er, er hätte sich westdeutsche Mädchen anders vorgestellt, als er noch drüben wohnte. Aber ich sei wohl schon so oft zum Tanzen gewesen, dass ich keine Lust mehr dazu hätte. Ich schluckte und lächelte zurück - bloß nichts anmerken lassen! Ich war froh, als die Musik wieder einsetzte. Die beiden verschwanden, um weiterzutanzen. Walters Bruder war wohl mittlerweile aufgefallen, dass der Abend für mich recht langweilig sein musste. Ich finde, es ist eine Schande, wandte er sich an mich, wenn man neben so einem hübschen Mädchen sitzt, und nicht tanzt. Damit nahm er meine Hand und zog mich in Richtung Tanzfläche davon. „Eviva España“, spielte die Kapelle zum wiederholten Male. Bernd tanzte zwar nicht gut, aber immerhin, er tanzte. Er machte überhaupt einen netten Eindruck. Walter ist wohl nicht in Form heute, sagte er tröstend und fand Silvester einen denkbar ungünstigen Zeitpunkt für solche Formtiefs. Ich wusste nichts zu erwidern. Bernd überging mein Schweigen taktvoll und fuhr mit seiner Plauderei fort. Die Tanzpause kam viel zu schnell. Wir kehrten an unseren Tisch zurück. Walter saß unverändert dort, hatte allerdings inzwischen eine volle Flasche Wein vor sich stehen; er war nie sehr zurückhaltend, was den Alkohol anging, aber an diesem Abend trank er besonders viel.

      Erneut setzte das ein, was man Unterhaltung nennt. Dieses Mal ging es um irgendwelche Anverwandte und Bekannte, mit denen ich nichts anzufangen wusste. Der eine war gestorben, noch ganz jung, die andere war schon lange verheiratet und hatte inzwischen drei Kinder. Ich langweilte mich, wie ich es bei den vorangegangenen Silvesterfeiern getan hatte. Aber dieses Mal war es nicht die vertraute Langeweile. Dieses Mal war es schlimmer. Früher hatte ich mich in freundlicher Umgebung gelangweilt; hier geschah es im kalten Nichts. Früher hatte ich mich wenigstens in meine Träume flüchten können; hier gab es nichts mehr zu träumen. Früher konnte ich mich geben, wie ich war; hier musste ich mich zusammennehmen und meine ganze Konzentration darauf verwenden, dass ich ebenso amüsiert aussah, wie die anderen. Meine Gesichtsmuskeln schmerzten vor Anstrengung. Ich wusste endgültig, dass etwas in die falsche Richtung lief, aber warum? Ein Blick auf die Uhr - kurz nach elf. Noch fast eine ganze Stunde durchhalten, lächeln, durchhalten, fast sechzig Minuten, wie viele Sekunden?

      Thomas, den die Familienneuigkeiten als angeheiratetes Mitglied wohl auch nicht allzu sehr interessierten, forderte mich zum Tanzen auf. Ich hatte keine Lust mehr, traute mich aber auch nicht abzulehnen und ging mit; vielleicht würde wenigstens die Zeit schneller verstreichen. Ich tanzte so schlecht wie noch nie. Meine Füße vollführten irgendwelche Schritte, die Musik nahm ich gar nicht wahr. Ich stolperte hinter meinem Tänzer her, dessen Vorstellungen von westdeutschen Mädchen dadurch wohl restlos erschüttert wurden. Und plötzlich verstand ich zum ersten Mal, was es bedeutet, wenn einem das Herz stehen bleibt. Es war keine dumme Redensart. Mein Herz hörte tatsächlich auf zu schlagen. Alles in mir war leer, taub und tot - ein sekundenlanger Tod. Walter, der die ganze Zeit nicht ein einziges Mal mit mir getanzt hatte, dieser Walter schwebte vergnügt mit seiner Schwester an mir vorbei. Mit äußerster Willensanstrengung schaffte ich es wegzusehen. Ich wusste, ich durfte nicht hinschauen, sonst würde ich schreien, in Tränen ausbrechen oder sonst etwas Unkontrolliertes tun. Irgendwie machte ich weiter, irgend etwas in mir ließ mich einen Fuß vor den anderen setzen, irgendwann saß ich wieder am Tisch. Dann gab es plötzlich lauten Jubel. Es war Mitternacht. Man wünschte mir ein gutes neues Jahr, viel Glück für das bevorstehende Abitur, man stieß an, man küsste sich. Walter küsste mich auf die Wange, aber das war nicht mehr ich, die er jetzt anlachte. Es musste sich um irgendein anderes Mädchen handeln. Dieses Mädchen küsste ihn zurück, gab ihm ein Päckchen, das ich irgendwann schon