Das Buch
spielt in den 1970-er Jahren. Die Generation, die in der Phase des Wirtschaftswunders geboren wurde, ist erwachsen geworden. Manche kopieren die Werte ihrer Eltern, andere lehnen sie aus Prinzip ab, und wieder andere suchen einen eigenen Weg zwischen materiellem Spießertum, linksradikalem Fanatismus und der Unbeschwertheit der Flower-Power-Bewegung. Es herrscht Freiheit, sie lässt alle Träume zu. Aber welche will und kann man leben?
Die Autorin
Friederike Gahm wurde1954 in Wetzlar geboren. Während ihrer Schulzeit lebte sie in Stuttgart, wurde schon früh süchtig nach Büchern, übte sich auch selbst im Schreiben, initiierte eine Schülerzeitung und plante für sich eine Zukunft als Journalistin.
Sie studierte Jura sowie Volks- und Betriebswirtschaft in Tübingen und Frankfurt.
Nach ihren Diplomabschlüssen war sie zunächst in einer internationalen Consulting-Firma tätig. Die Arbeit gefiel ihr so gut, dass sie den Schritt wagte, sich als Unternehmensberaterin selbständig zu machen, auch wenn es den Abschied vom Journalismus bedeutete. Sie arbeitete viele Jahre vor allem auf dem Sektor der internationalen Zusammenarbeit und beriet Organisationen in Afrika, Asien und Südamerika.
Die Literatur blieb immer ihr Refugium, und ihre Literaturauswahl wurde durch die vielen internationalen Kontakte ungewöhnlich facettenreich. Nun ist es Zeit, nicht mehr nur zu lesen, sondern auch wieder aktiv zu schreiben.
Der Frühlingsschläfer
Friederike Gahm
© 2020 by Friederike Gahm
Autor: Friederike Gahm
Umschlaggestaltung, Illustration: Theo Schmidt
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN: | 978-3-347-07970-0 |
978-3-347-07971-7 | |
978-3-347-07972-4 |
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Na, sagt mein Alter Ego verdächtig freundlich, wie fühlst du dich? Ich versuche es mit Ignorieren, aber mein Alter Ego ist hartnäckig. Mies, brumme ich schließlich. Mein Alter Ego schweigt befriedigt. Es ist so zufrieden, dass es sich sogar ein Siehst-Du verkneifen kann. So benimmt man sich nicht, fährt es nach einer Weile fort und zieht vorwurfsvoll die Augenbrauen hoch. Ich widerspreche nicht, was es mir natürlich als Zustimmung auslegt. Was gedenkst du zu tun, erkundigt es sich. Ich bleibe stumm. Du könntest doch, schlägt mein Alter Ego spöttisch vor, deinen Sinn fürs Dramatische austoben. Du könntest zum Beispiel auf die Beerdigung gehen, in Schwarz gekleidet, sodass deine blonden Haare, auf die du so stolz bist, voll zur Geltung kommen, und reuig am offenen Grab niedersinken. Du wärst sicher rührend ergreifend, glaubst du nicht? Hör auf, sage ich böse. Mein Alter Ego lächelt erfreut und schweigt. Ich habe ihn schließlich nicht umgebracht, knurre ich, oder willst du mir das vielleicht vorwerfen? Nein, entgegnet mein Alter Ego ganz sanft. Ich kann auch nichts dafür, wenn dieser Mensch wie ein Irrer Auto fährt und sich beim Überholen den Schädel einrennt, verteidige ich mich unwillig. Oder bin ich vielleicht gefahren? Nein, sagt mein Alter Ego immer noch sehr freundlich, so riskant würdest du natürlich nie fahren. Du bist eine vorzügliche Autofahrerin, fährst rücksichtsvoll und defensiv, beachtest die Verkehrszeichen - es sei denn du hast schlechte Laune, so wie gestern zum Beispiel. Ich sehe aus dem Fenster und versuche unbeteiligt zu fragen, ob dies eine Diskussion über meine Fahrkünste sei. Leider nein, antwortet mein Alter Ego. Ich sehe weiterhin aus dem Fenster und stelle fest, dass der Wald langsam einen zarten Grünschimmer bekommt, es wird endlich Frühling. Genau, sagt mein Alter Ego, es wird Frühling, und Norbert ist tot. Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich nichts dafür kann, fahre ich meinen Quälgeist an. Natürlich, bestätigt er, natürlich, aber du kannst etwas für Silvester.
Unzweifelhaft kann ich für Silvester an sich nicht verantwortlich gemacht werden. Hätte ich irgendeinen Einfluss auf die Existenz dieses Tages, so würde ich ihn ersatzlos aus dem Kalender streichen, denn er verdirbt mir regelmäßig die Gemütlichkeit der Nachweihnachtszeit. Kurz vor dem Jahresletzten macht sich eine sehr eigenartige und unerfreuliche Stimmung in mir breit, die sich am Ultimo zu ihrer Höchstform entwickelt. Sie setzt sich zusammen aus einer gewissen Unzufriedenheit mit dem, was war, und aus einem bisschen Angst vor dem, was wird. Hinzu kommt der mahnende Zeigefinger der Vergänglichkeit, der zwar täglich drohen möchte, doch nur am Jahresende die ihm gebührende Wichtigkeit zugestanden bekommt. Unbehaglich werden diese Gefühle allerdings erst dadurch, dass man sie mit Jubel, Trubel, Heiterkeit paaren muss, denn an Silvester ist Stimmung angesagt.
Vielleicht würde ich diesem Datum etwas weniger skeptisch entgegensehen, wenn ich aus der Erinnerung einige gelungene Silvesterfeiern aufzählen könnte. Das ist leider nicht der Fall. Bereits in meiner Kindheit, wo sich der fragliche Tag wenigstens dadurch auszeichnete, dass ich bis Mitternacht aufbleiben durfte, fehlte es bei mir an innerer Fröhlichkeit. Der Abend des Jahresletzten lief stets sehr zeremoniell im Hause meiner Großeltern ab und begann mit einem Karpfenessen. Zwar war meine Großmutter eine hervorragende Köchin, doch gelang es auch ihr nicht, meinen Geschmack an diesem grätigen Ungeheuer in Blau zu wecken. Ich mogelte mich daher durch das Festessen, indem ich meinen Hunger an Kartoffeln stillte, die auf meinem Teller kleine Inseln in einem Buttersee bildeten, und heuchelte möglichst glaubhaft Begeisterung für den Fisch, den ich vorsichtshalber so ungeschickt von Haut und Gräten befreite, dass nicht mehr allzu viel zum Essen übrig blieb. Dabei verhielt ich mich unauffällig-manierlich, um keine Aufmerksamkeit auf mich oder meinen Teller zu lenken. Diese Anstrengung ließ sich relativ einfach überstehen, wenn ich an den Nachtisch dachte, der zum Glück ebenso unvermeidlich zu Silvester gehörte wie der lästige Karpfen. Er war eine raffinierte Mischung aus Orangensaft, Wein, Eiern und Sahne, zu herrlich, um nur als Orangencreme bezeichnet zu werden. Wenn die Schüssel mit dem ersehnten Inhalt endlich auf den Tisch kam, machte ich dem Karpfen in Gedanken eine lange Nase; ich löffelte mein Dessert mit aller Hingabe, um den Genuss völlig auszukosten. Jedes Jahr stieß es erneut auf Verwunderung, dass ich - sonst eine recht mäßige Esserin - nach dem schweren Hauptgang noch so viel Süßes verzehren konnte.
Dieser kulinarische Höhepunkt hätte von mir aus das Ende dessen sein können, was man Silvester nennt. Leider fing es aber gerade danach erst richtig an, seine reiche Palette an Nuancen der Langeweile zu entfalten; nach dem Essen begann die zähe Warterei bis Mitternacht. Mein Großvater versuchte vergeblich, die Zeit durch Fernsehen zu verkürzen. Jede einzelne Minute beharrte auf ihrem Recht. Und so warteten wir - zunächst zusammen mit dem Zigeunerbaron, später als Zaungäste einer Silvesterparty, auf der sich alle beneidenswert glänzend amüsierten. Ich hätte ohne Zögern das Taschengeld mehrerer Wochen geopfert, um einmal an einem solchen Fest teilzunehmen. Natürlich war diese Idee illusorisch, und mir blieb nichts anderes übrig, als mich in einem rauschenden Abendkleid auf einen Phantasieball zu denken, dessen Kulissen viel prächtiger waren als die dürftige Fernsehdekoration. Meine Träumereien wurden nicht oft unterbrochen. Hin und wieder stand meine Großmutter auf, um für Nachschub an Wein zu sorgen oder irgendwelche Knabbereien aufzufüllen. Ihr Kommen und Gehen hätte ich wohl kaum bemerkt, wenn sich nicht meine Mutter jedes Mal genötigt gefühlt hätte, der alten Dame wortreich ihre töchterlichen Dienste für derartige Gänge zu offerieren. Mich bezog sie in die Angebote ein - mit hochgezogenen Augenbrauen, dass ich nicht von selbst darauf gekommen war. Ob diese Pflichtübungen meiner Mutter tatsächlich eine Hilfe waren, bezweifle ich, aber sie schaffte es dadurch, eine Unruhe zu verbreiten, die meiner Stimmung den Rest gab.
Kurz vor Mitternacht erschien endlich das Zifferblatt einer Uhr auf dem Bildschirm, überdimensional und hässlich. Man durfte aufatmen; die Prozedur war bald überstanden. Während ich hoffnungsvoll