Im Westen ist Amerika. Dirk Möller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dirk Möller
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347056084
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schriller Schrei.

      Einen Wimpernschlag später schlug er auf den mit Wurzelwerk steinhart verknöcherten Boden. Sein Genick brach wie morsches Holz. Mit einem Pfeifen entwich die Luft aus seinen Lungen. Es ließ den Männern, die Zeuge des Unglücks wurden, das Blut in den Adern gefrieren.

      Es donnerte. Das lang gezogene Grollen sank zu einem verhaltenen Grummeln herab, bevor eine gespenstische Stille eintrat. Kein Vogel zwitscherte, kein Zweig knackte. Der Wald hielt die Luft an. Nach einer Weile atmete er weiter. Die Bäume begannen zu rauschen, und das Plätschern des einsetzenden Regens wuchs zu einem Prasseln heran. Das Gewitter kam wie ein Gruß aus der Hölle.

      Waldwärter Overkamp bekreuzigte sich, und alle folgten seinem Beispiel.

      Nur nicht der Mann im grauen Mantel. Worin andere eine unheilvolle Symbolik sahen, langweilte ihn.

      Wieder krachte es. Ein Blitz zuckte vom Himmel, der die Tragödie beweinte, die sich unter ihm abspielte.

      Ludwig v. Hashagen räusperte sich. »Furchtbar. Armer Junge. Welch ein Unglück!«

      Jemand flüsterte ein Gebet.

      »Das sind die Büsche«, brachte einer der Soldaten heraus. Sein schwabbeliges Gesicht, das in einem Doppelkinn zulief, wechselte von aschfahl zu mondweiß, als der nächste Blitz das Zwielicht erhellte.

      »Sie sind verflucht«, stimmte sein Kamerad ein. Er zupfte an einem Ohrläppchen. »Wir sollten gehen, nur weg von diesem Ort! Man erzählt sich schreckliche Dinge. Ihr Geist … er ist hier.«

      In diesem Moment fackelte der nächste Blitz über den Wald. Die seit Tagen aufgestaute Energie entlud sich in gewaltigen Kurzschlüssen, die das Gesicht des Toten jedes Mal gespenstisch aufflackern ließen.

      Der Oberforstmeister war versucht, dem Drängen seiner Männer nachzugeben. Dann besann er sich darauf, dass das Schauermärchen von Katharina Peggelers spukender Seele Schwachsinn war. »Gewehre laden! Verwandelt die Hütte in ein Scheißsieb!«

      Er nahm das Pulverhorn vom Gürtel, füllte die Pfanne der Flinte und schüttete noch etwas Schwarzpulver in den Lauf. Dann fischte er eine Papierhülse und eine Kugel aus der Patronentasche, ließ das Projektil in den Lauf rollen und schob das zerknüllte Papier mit dem Ladestock hinterher. Schließlich spannte er den Hahn.

      Ein Blick zur Seite – die Soldaten waren bereit. »Auf mein Kommando!«, brüllte er gegen das Gewitter. »Feuer frei!«

      Beinahe gleichzeitig krachten drei Schüsse.

      »Weitermachen!«

      Einige Salven später rauchten die drei Gewehre wie Vulkane. V. Hashagen beendete die Ballerei. »Das reicht. Wer da oben hockt, läuft nicht mehr weg. Wir sehen später nach. Zuerst bringen wir den Jungen nach Hause. Das sind wir ihm schuldig.«

      Die Männer ließen es sich nicht zweimal sagen. Heiner, der Knecht, schulterte die Leiche, und der zu einem Trauerzug herabgesunkene Suchtrupp war abmarschbereit.

      »Er ist nicht da.«

      Alles starrte den Mann im grauen Mantel an.

      »Wie bitte? Wie meint Ihr das?«

      »Wie ich es sage.«

      Ludwig v. Hashagen ärgerte die bodenlose Arroganz des Mantelträgers. Er fand, sie höhlte seine Autorität aus. »Und woher nehmt Ihr diese Erkenntnis, wenn ich freundlichst fragen darf?«

      »Ich weiß es einfach.«

      Der Mantelträger kam geradewegs auf ihn zu. Noch dreißig Schritt bis zu dem Saum des Fichtengehölzes.

      Trommelfeuer in der Brust, keine Luft zum Atmen – Johannes wollte aufspringen und wegrennen. Aber er blieb in Deckung und biss in seine Hand, bis sie blutete.

      Zwanzig Schritte.

      Zehn.

      Der Fremde ging in die Hocke. Er inspizierte den Boden, durchkämmte Grasbüschel, strich Laub zur Seite. Aus der Krempe seines Hutes schwappte Wasser auf die Knie.

      Es donnerte und blitzte in einem fort.

      Er richtete sich auf und starrte in den Fichtenwald. Genau in Johannes’ Richtung.

      Ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken.

      Da geschah ein Wunder. »Kommt schnell! Man hat ihn gesehen.« Overkamp, der milchgesichtige Waldwärter, war vollkommen aus dem Häuschen. Er ruderte mit den Armen wie eine Windmühle.

      Zwei eisgraue Augen nagelten ihn ans Kreuz, und seine Euphorie erstarb. Er verfiel in hilfloses Gestammel. »Der Soldat … er schwört bei der heiligen Mutter Gottes. Er hat ihn gesehen, unten am Bach. Wenn Ihr Euch sputen … der Oberforstmeister schickt … äh, ich soll Euch holen.«

      Der Mantelträger sezierte ihn weiter.

      Overkamp blieb standhaft. Mehr noch als den Mann im grauen Mantel fürchtete er den Zorn seines Vorgesetzten. »Er macht sich aus dem Staub.«

      Der Mann im grauen Mantel ignorierte den flehentlichen Blick. Wieder spähte er in den Wald. Horchte auf ein verräterisches Geräusch. Ganz still stand er da.

      Overkamp zog frustriert ab.

      Johannes presste das Gesicht in die Erde.

      Der Unheimliche machte auf dem Absatz kehrt. Er folgte dem Waldwärter. Eine Bö erfasste seinen Mantel und ließ ihn wehen.

       Kapitel 9

      Johannes sprang von der Ladefläche des Erntewagens. Er schob einen Türflügel auf und lugte durch den Schlitz. Es dämmerte – endlich. Der gnadenlose Feuerball verzog sich und machte der Nacht Platz, der Komplizin aller Verfolgten. Höchste Zeit zu verschwinden, denn die Scheuer taugte nicht als Versteck. Sie gehörte zu Tiedemeyers Hof, einem Meierhof in Salzkotten, und stand am Rande eines abgeernteten Roggenfeldes. Allein auf weiter Flur und einen Steinwurf vom Wewerschen Samtholz entfernt lud sie geradezu zu einer Durchsuchung ein. Aber außer ein paar Krähen, die über die blassgelben Roggenstängel hüpften, um aus den Ähren gefallene Körner zu picken oder Regenwürmer aus der vom Regen getränkten Erde zu ziehen, hatte sich niemand blicken lassen.

      Trotz des abgeklungenen Gewitters war die Luft schmierig feucht. Im Osten türmten sich Wolken – Vorboten des nächsten Regens. Irgendwo dort musste das Gebirge sein, vor dem Antonius Kalhof, der Schulmeister, der eigentlich Küster war, mit bebender Stimme gewarnt hatte. Das er als die unwirtlichste und gottloseste aller Gegenden bezeichnet hatte. Wohin kein braver Mann ging.

      Ludwig v. Hashagen befand sich in einem hochlabilen Zustand. Er pendelte zwischen ungezügelter Wut, die sich in eruptiven Tobsuchtsanfällen entlud, und tiefer Trauer, die er mit geradezu irrationalem Aktionismus zu bekämpfen suchte. Nachdem sie gegen Nachmittag nur mit der Leiche von Tobias zurückgekehrt waren, ließ er das ganze Dorf auf dem Kirchplatz zusammenrufen.

      Wewer zählte an die siebenhundert Seelen, und es dauerte zwei Stunden, bis alle angetreten waren. Nun warteten sie, und man konnte an ihren schmalen Gesichtern ablesen, wie unwohl ihnen zumute war.

      Der wuchtige, Wehrhaftigkeit demonstrierende Turm der Kirche St. Johannes Baptist, unter dem sich die Leute versammelt hatten, war die richtige Kulisse für die donnernde Ansprache, die Ludwig v. Hashagen folgen ließ. »Männer und Frauen aus Wewer, Johannes Bargfeld hat zwei Menschen auf dem Gewissen. Meinen Sohn Jakob und Tobias, den wir alle schätzen … äh … den ihr alle kennt.« Wie sollte man den tragischen Tod des allseits gemiedenen, furchtbar stinkenden Gerbersohns in pietätvolle Worte kleiden? Vielleicht war es besser, gleich auf den Punkt zu kommen. »So hört gut zu: Wer dem Mörder Unterschlupf gewährt, wird im Kerker verrotten bis ans Ende seiner Tage. Wer etwas verheimlicht, das zu seiner Ergreifung dienlich sein könnte, dem blüht das Gleiche.«

      Die schmalen Gesichter wurden noch schmaler.

      Der Oberforstmeister war noch nicht fertig. »Vierzig Silbertaler aber für den, der einen entscheidenden Hinweis liefert. Und eine gesunde Kuh.«

      Das