Vielleicht hat auch von denen der eine oder andere davon geträumt, sich die Mondlandung anzusehen, wenn er schon nicht nicht ins Festzelt und Biertrinken darf. Aber Ralf ist wohl der einzige der es geschafft hat, dies auch in die Tat umzusetzen.
Er ist das Ganze sehr planvoll angegangen. Er hat sich darüber informiert, wann mit der Landung zu rechnen ist, hat vorher etwas geschlafen und sich dann den Wecker gestellt, damit er pünktlich aufwacht. Schließlich wollte er nicht das Risiko eingehen, alles zu verpassen.
Auf dem Boden verstreut liegt ein halbes Dutzend Bücher über die Raumfahrt, über die Planeten und über ferne Sterne. Da steht alles drin, was man bisher darüber weiß.
Aber das ist nicht sehr viel.
Ralf ist erst fünf, aber er kann besser lesen als manch einer aus dem vierten Schuljahr, von denen einige noch ziemlich herumstottern, wenn sie ein Stück vorlesen sollen, das sie vorher nicht geübt haben.
Die vier Tage Reise zum Mond, die Umkreisungen des Orbiters, das Ausklinken der Landefähre und schließlich das Aufsetzen auf der Mondoberfläche... Ralf kennt jeden einzelnen Schritt auf dem Weg dorthin. Er hat die Berichte über die vorhergehenden Apollo-Missionen verfolgt, die nur bis in die Umlaufbahn des Mondes gekommen sind und er hat keine Folge der Sendungen von Professor Heinz Haber verpasst, der einem all das erklärte.
Ralf hatte nicht alles verstanden, aber vieles. Und das, was er nicht verstanden hat, ließ sich begreifen, wenn man in Büchern nachschlug.
Er hatte sich das Lesen selbst beigebracht und war deshalb ein Jahr früher in die Schule gekommen.
Wäre doch gelacht gewesen, wenn es da etwas gegeben hätte, was er nicht hätte herausfinden können.
Seine Neugier war so grenzenlos wie das Universum selbst.
Ralf sieht auf die Uhr.
Eigentlich hat sein Freund Andreas angekündigt, in der Nacht zu ihm zu kommen, damit sie gemeinsam die Mondlandung erleben konnten.
Andreas wohnt ein Haus weiter – gut hundert Meter entfernt und seine Eltern hätten es nicht gemerkt, wenn er das Haus verlässt.
Schließlich sind sie bis zum frühen Morgen ebenso im Festzelt beschäftigt wie Ralfs Eltern.
Andreas ist ein Jahr älter aber Ralf hatte trotzdem immer schon den Eindruck, dass er nicht ganz so helle war. Man musste ihm manchmal die Dinge dreimal erklären, wenn man sicher sein wollte, dass er sie auch richtig begriffen hatte.
Und deshalb hatte sich Ralf auch große Mühe gegeben, ihm eindringlich klarzumachen, wie er den Wecker zu stellen hätte, damit er auch pünktlich aufwachte.
Offenbar vergeblich.
Andreas hätte längst hier sein müssen!, geht es Ralf ärgerlich durch den Kopf.
Dieser Dussel!
„Ey, bist du ein Lehrer oder was?“, hatte ihn Andres noch angefahren, als Ralf seine Kontrollfragen gestellt hatte, um herauszufinden, in wie fern sein Freund tatsächlich begriffen hatte, was zu tun war. „Du brauchst nicht zu denken, dass ich doof bin, du Schlaumeier. Und nur, weil du vorzeitig eingeschult wurdest, brauchst du dir auch nichts einzubilden!“
Auch wenn Andreas nicht der Hellste war – Ralf fand es doch angenehm, ihn um sich zu haben.
Dann hatte er jemanden, dem er von seinen Ideen erzählen konnte. Jemanden, der ihm fasziniert zuhörte, wenn er davon sprach, wie eine Mondfähre aufgebaut war, wie der Orbiter funktionierte, wie stark die Rakete sein musste, die all das aus der Anziehungskraft der Erde herauskatapultierte und so zielgenau in den Weltraum hineinschleuderte, dass es den Mond erreichte.
Über dreihunderttausend Kilometer.
Eine Zahl, die sich nicht mal Ralf vorstellen kann.
Andreas kann fehlerfrei bis 22 zählen. Ralf hat es immerhin schon mal geschafft einfach so und aus Spaß die Zahlen bis 1000 aufzuschreiben, ohne eine zu vergessen.
Aber 300 000 – das ist einfach nur ein magischer Begriff.
Einen Kilometer – das weiß er ziemlich genau, wie viel das ist. Einen Kilometer muss man laufen, um ins Dorf zu kommen und im Kiosk von Oma Oelrich ein Bessy-Heft zu kaufen.
Genau tausend Schritte. Ralf hat es abgezählt.
Und hundert Schritte sind es bis zum Haus von Andreas‘ Eltern. Wenn er den Wecker richtig gestellt hätte, wäre er aufgewacht und hergekommen!, denkt Ralf.
Er sieht die verwackelten Schwarzweißbilder der Landefähre > Eagle>, sieht die Umrisse von Neil Armstrong. Das ist er also. Der zweite große Moment. Der Adler ist gelandet und jetzt ist Armstrong ausgestiegen und der erste Mensch betritt den Mond. Mit so einer Fähre möchte ich mal fliegen, denkt Ralf. Wenigstens einmal.
Nach dieser Nacht wird er das nie wieder denken.
Einige Augenblicke lang versinkt er in seinem Traum von einer Zukunft als Astronaut. Den ersten Mann auf dem Mond gibt es ja nun schon, aber da draußen sind noch viele Planeten. Warum sollte er nicht der erste Mann auf dem Mars werden?
Dass Neil Armstrongs Vorfahren aus Ladbergen stammen, darüber haben sie in der Schule geredet. Was ein Ladberger geschafft hat, könnte doch auch einem zweiten gelingen, denkt Ralf.
Er hört einen Schrei und fährt zusammen.
Ein Schrei so hell und schrill wie eine Kinderstimme.
Ralf sitzt da und kann sich nicht bewegen, denn obwohl sie so verzerrt klang, hat er die Stimme sofort erkannt. Andres!
Ein Geräusch lässt ihn sich zum Fenster drehen. Auf dem Fernseher hat man jetzt gerade wieder zurück ins Studio geschaltet und ein Experte sagt ein paar kluge und salbungsvolle Worte über die Zukunft der Menschen und den Blick von einem anderem Himmelskörper auf die ferne Erde, der uns allen doch bewusst machen könnte, wie verwundbar wir doch sind. Die Erde als verletzliche Insel des Lebens im All. Ralf hört nicht zu. Er geht zum Fenster.
Ist Andreas vielleicht in einen Kuhfladen getreten? Hat er deshalb so geschrien? Memme!
Er nimmt seine Taschenlampe, die er letztes Weihnachten bekommen hat und die seitdem fast ständig seine Hosentasche ausbeult.
Ralf öffnet das Fenster.
Ein kühler Hauch kommt herein. Und zusammen mit diesem Hauch auch ein wimmernder Laut. Da ist irgend etwas geschehen. Irgend etwas Schlimmes.
Ralf sieht nochmal zum Fernseher. Immer noch Studio. Nicht Houston. Nicht der Mond. Kein Armstrong, keine EAGLE.
„Andreas?“, ruft Ralf.
Aber da gibt es keine Antwort. Das Wimmern verstummt.
Ralf steigt nach draußen. Er läuft ein paar Schritte. Der aufkommende Wind biegt die Bäume und lässt sie rascheln.
„Wo bist du denn, du Blödmann?“
Er lässt den Strahl seiner Taschenlampe suchend herumfahren.
Und dann sieht er ihn. Andreas liegt im Gras.
Er sieht das Blut.
Viel Blut.
Und in den starren Augen spiegelt sich das Mondlicht. Der Mund steht offen – wie gefroren im Schrecken.
Da liegt auch ein Messer.
Die Klinge blitzt auf.
Zumindest dort, wo sie nicht mit Blut beschmiert ist.
Dann knackt ein Ast. Ralf lässt den Lichtkegel seiner Lampe herumfahren. Eine Gestalt schält sich aus der Dunkelheit heraus.
Ein Mann.
Er hebt den Arm vor das Gesicht, denn die Lampe blendet ihn. Ralf sieht nur die Hand und die Stirn und die hakenförmige Narbe.
Und das Blut an seinem Hemd und dem Ärmel.
Der