Das ABC der Menschheit. Matthias Heine. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Heine
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783455008531
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oder Ahirom (wir erinnern uns; die Semiten schrieben keine Vokale, deshalb ist die Aussprache des Namens nicht sicher), 38 Wörter im altbyblischen Dialekt, die beginnt: »Zum Sarkophag machte dies Ittobaal, Sohn Ahiroms, König von Byblos, für seinen Vater Ahirom; fürwahr, er setzte ihn damit ins Verborgene.«

      Phönizisch ist eine von drei großen Schriftfamilien, die sich am Ende des 1. Jahrtausends v. Chr. auf allerlei undurchsichtigen Wegen aus dem protosinaitischen Alphabet oder ähnlichen Vorläuferschriften entwickelt hatten. Die beiden anderen sind Althebräisch, das nicht identisch mit der hebräischen Schrift der jüdischen Bibelüberlieferung ist (und das ich deshalb hier nur kurz erwähne), und Aramäisch, das sehr viele Tochterschriften in Asien zeugte – doch davon wird ein späteres Kapitel handeln.

      Verglichen mit den vorangegangenen Schriften ist das Phönizische wesentlich mehr normiert, die Form der Buchstaben schwankt nicht mehr so stark. Ihre Zahl wird endgültig auf 22 Buchstaben reduziert. Die Schreibung in Linksrichtung wird festgelegt. Die phönizische Schrift ist gut überliefert: Insgesamt 500 Inschriften sind im eigentlichen Phönizien an der Ostküste des Mittelmeers erhalten. Wesentlich mehr – nämlich 6000 – fand man in Karthago, das am Ende des 9. Jahrhunderts v. Chr. als Kolonie von Tyros im Gebiet des heutigen Tunesiens gegründet wurde, und in den von Karthago abhängigen Orten. Unter den Funden sind vollständige schulartige Übungstafeln mit brauchbaren Buchstabenlisten in alphabetischer Reihenfolge.

      © Hoffmann und Campe Verlag nach https://de.wikipedia.org/wiki/Phönizische_Schrift; Buchstabennamen nach Ludwig D. Morenz: Ägypten und die Geburt der Alphabetschrift, Rahden 2016, S. 36

      Wegen der Ähnlichkeit zum Hebräischen kann man die Zeugnisse in phönizischer Sprache zuverlässig entziffern. Vom Hebräischen ausgehend, hat man auch die Bezeichnung der Buchstaben rekonstruiert. Es sind im Wesentlichen die Namen des frühen hebräischen Alphabets etwas angepasst an das, was man über die Aussprache des Phönizischen weiß. Die Bezeichnungen der hebräischen Buchstaben kennt man aus der Septuaginta, einer Übersetzung der hebräischen Bibel – also dessen, was im Christentum Altes Testament heißt – ins Griechische. Sie entstand im Jahre 200 v. Chr. und heißt so, weil angeblich 70 Weise sie direkt von Gott inspiriert übersetzten. In den Klageliedern des Propheten Jeremias nutzt die Septuaginta die hebräischen Buchstaben, um den Text zu gliedern. Die 22 Namen tauchen im Text mehrfach auf – geschrieben in griechischen Lettern.

      Im Phönizischen gerät allmählich der Zusammenhang zwischen den Buchstaben und den Bildzeichen, aus denen sie ursprünglich hervorgegangen sind, in Vergessenheit. Das öffnet Perspektiven für die Zukunft sowohl für abstraktere Schreibweisen, die das Alphabet schließlich anschlussfähig an andere Sprachen machen, als auch für größere Schreibökonomie durch weitere Vereinfachung der Buchstaben.

      Die Buchstaben der Phönizier symbolisierten eindeutig Lautelemente der gesprochenen Sprache: d, h, m, p und so weiter. Noch immer wurden ausschließlich Konsonanten geschrieben. Die Buchstaben hießen aleph (»Ochse«), bet (»Haus«), gimel (»Wurfstock«), daleth (»Tür«) etc. Das phönizische Alphabet enthielt schon die Keime von 19 unserer heute bekannten lateinischen Buchstaben, und an vielen Stellen standen sie auch schon in der heute noch üblichen Reihenfolge. Zum Beispiel ist chet (»Zaun«) ein Rachenlaut, aus dem später das H wurde; jod (»Arm und Hand«), der Vorläufer des I; kap (»Handfläche«) war schon damals das K; lamed (»Ochsengeschirr«) das L; mem (»Wasser«) das M; und nun (»Fisch«) das N. Das phönizische lamed stand nicht nur an der gleichen Stelle wie unser L – es sah sogar auch schon genau so aus.

      Durch die Gründung von Kolonien, mit der die Phönizier im 9. Jahrhundert v. Chr. begannen – zu den wichtigsten neben Karthago gehörten Städte auf Sizilien sowie Gadir, das heutige Cádiz in Spanien –, verbreitete sich auch die Kunde von der neuen überlegenen Kulturtechnik, die sie beherrschten, bis in entlegene Gegenden des Mittelmeers. Irgendwo dort übernahmen die Griechen Idee und Form des Alphabets von den Phöniziern. Die geniale Erfindung, die so lange im Besitz von Wüstenvölkern in Randlage der zivilisierten Welt gewesen war, verließ den Kreis der semitischen Kultur und trat ihren globalen Siegeszug an.

      Der Sprung nach Griechenland

      Kanaanäische Händler kamen wahrscheinlich schon in der mykenischen Epoche, die kurz nach 1200 v. Chr. mit der Zerstörung aller bis dahin existierenden Palastherrschaften endete, zu den Griechen und wurden bereits Phoinikes genannt. In den dunklen Jahrhunderten, die in Griechenland auf den Zusammenbruch der bronzezeitlichen Herrschaften folgten, entwickelte sich ein großes kulturelles Gefälle zwischen den Hellenen und den Phöniziern. In Griechenland und der im weitesten Sinne dazugehörigen Inselwelt ging die Schrift verloren. In der minoischen Hochkultur auf Kreta hatte man sowohl vom 20. Jahrhundert v. Chr. an eigene Hieroglyphen als auch zwei Silbenschriften entwickelt – die sogenannte Linear A seit dem 17. Jahrhundert v. Chr. und die aus ihr entwickelte Linear B. Letztere war auch auf dem griechischen Festland im Gebrauch. Das alles geriet nun gründlich in Vergessenheit.

      Dagegen gediehen die phönizischen Städte prächtig. Sie waren vom großen bronzezeitlichen Zusammenbruch größtenteils verschont geblieben. Im biblischen Buch der Richter wird ausdrücklich hervorgehoben, dass es den Hebräern – die in bronzezeitlichen Inschriften als hapiru zu den großen Unruhestiftern gezählt werden – nicht gelang, Städte wie Akko und Sidon einzunehmen. Im Gegenteil: Befreit vom Druck der schwächelnden Großmächte in Ägypten und Mesopotamien, blühten die Phönizier wirtschaftlich, politisch, militärisch und kulturell auf.

      Manches Wissen mussten Hellenen aus Phönizien importieren. Die Alphabetschrift sollen dem Mythos nach die Prinzen Kadmos, Phoinix und Kilix mitgebracht haben, die von ihrem Vater Agenor, dem König von Tyros, nach Griechenland geschickt wurden, um ihre von Zeus entführte Schwester Europa zu suchen. Auf Kalliste, dem heutigen Thira, Hauptinsel des Santorin-Archipels, sollen sie den Bewohnern das Schreiben beigebracht haben. Die Griechen passten die phoinika grammata, die »phönizischen Buchstaben«, nur noch an ihre Sprache an. Dieser Mythos zeigt, dass den Griechen noch lange bewusst war, woher ihre Schrift stammte. Santorin, das tatsächlich jahrhundertelang von Phöniziern besiedelt wurde, bevor die Spartaner hier um 900 v. Chr. einen Stützpunkt errichteten, wäre ein möglicher Kandidat für den Ort dieses so bedeutsamen Kulturtransfers. Andere Kandidaten sind Zypern, Kreta, Rhodos sowie Al Mina, eine Siedlung an der Mündung des Orontes in Kleinasien.

      Die Übernahme muss an einem Ort stattgefunden haben, an dem Griechen und Phönizier längere Zeit nebeneinander lebten und beide Sprachen benutzt wurden. Diese Voraussetzungen waren beispielsweise in Al Mina gegeben, wo in der in Frage kommenden Zeit griechische Händler oder Söldner oder beide Gruppen ansässig waren.

      Es gibt auch eine Theorie, wonach das neue Alphabet in Kreta entstanden sein soll. Dort sei nach dem Ende der minoisch-mykenischen Mischkultur die Erinnerung an die Schrift mit den beiden Varianten Linear A und Linear B nie ganz verblasst. Das Phönizische Alphabet sei gewissermaßen die modernste Technologie gewesen, mit der man an die alte Kulturtradition wieder anknüpfen konnte.

      Die Übernahme der Schrift hat man früher auf die Zeit um 800 v. Chr. datiert. Das früheste Zeugnis, das mit einem Alphabet in griechischer Sprache geschrieben ist, ist eine Inschrift aus der Nekropole Osteria dell’Osa in Mittelitalien, die aus der Zeit um 775 v. Chr. stammt. Für die Zeit von 750 bis 650 v. Chr. sind rund hundert Inschriften aus dem gesamten griechischen Raum nachgewiesen. Es sind Keramikgefäße, in die die Namen ihrer Eigentümer, religiöse Weihsprüche und Trinkverse eingeritzt sind. Auf Kreta hat sich so »Erpetidas, der Knabenliebende« verewigt, und auf einem Schöpfgefäß im süditalischen Kyme warnt der Spruch »Wer mich stiehlt, soll blind werden«.

      Mittlerweile geht man davon aus, dass die Übernahme und Erweiterung der phönizischen Schrift schon kurz nach der Wende zum letzten vorchristlichen Jahrtausend stattfand. Das griechische Alphabet – darüber ist die Forschung einig – wurde von einem einzelnen Erfinder oder einer kleinen innovativen Gruppe, die miteinander über ihre Erfindung kommunizierte, geschaffen. Sprachwissenschaftliche Erkenntnisse schließen aus, dass das Alphabet