Unerreichbares Leben. Benigna Gerisch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benigna Gerisch
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347101975
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würde, wenn der Sommer endete. Sie würde ja bei Eiseskälte, Schnee und Regen nicht auf dem Balkon ausharren können. Aber jetzt war Hochsommer, dessen Ende sich längst noch nicht ankündigte. Er liebte Marie mit einer Heftigkeit, die ihn von Sinnen sein ließ, aber das störte ihn nicht. Er war besessen von ihr, auch wenn bis heute weder der Zustand noch die Empfindung etwas mit ihm zu tun gehabt hatten.

      So vergingen die Wochen, in denen er auf seinem Posten ausharrte und allmählich verwahrloste, da er sich nicht traute, länger als unbedingt nötig das Bad aufzusuchen. Nun stank er wirklich. Nach altem, ungewaschenem Mann. Manchmal war ihm, als hätte sie ihm zugelächelt, vielleicht war es aber auch nur Einbildung, doch von einer tiefen inneren Verbindung war er ohnehin überzeugt. Er schlief kaum noch, nur wenn Marie spät am Abend ihren Rückzug in die Wohnung antrat, dämmerte er für eine Weile ein. Er hatte sich ganz und gar ihrem Lebensrhythmus angepasst. Am Morgen trat sie mit einer Kaffeetasse auf den Balkon und begrüßte ihre Blumen, dann las sie. Ganz selten sah er sie etwas essen, und wenn, dann stopfte sie nicht in sich hinein, wie seine Tochter, sondern kaute andächtig ein Brot oder einen Apfel. Am Nachmittag döste sie in der Sonne und vertrieb sich die Zeit mit Nichtstun. Manchmal lackierte sie sich die Nägel, diese Haltung mochte er ganz besonders an ihr. Wie gelenkig und anmutig sie sich vorbeugte, um jeden einzelnen Zehennagel zu bemalen, wie eine Künstlerin. In den Abendstunden goss sie die Pflanzen, trank ein Glas Wein und rauchte. Allmählich wurden die Schatten länger, der Sommer drohte, nun doch zu enden, auch wenn es immer noch sehr warm war. Er verspürte nicht den Drang, sie zu berühren oder kennenzulernen, er kannte sie ja, wie er seine Toten gekannt hatte, die so stumm und ohne jede Resonanz, ihm aber ganz und gar ergeben gewesen waren. Aber aus ihren Leibern sprach es, lärmend, brüllend, verzweifelt.

      Als er eines Abends zurück auf seinen Posten stürzte, er hatte eben den Lieferservice verabschiedet, da glaubte er erst nicht, was er sah. Marie stand dort in ihrem Blütenmeer eng umschlungen mit einem großen Mann, der deutlich älter als sie zu sein schien. Er küsste ihre Stirn, ihren Hals, ihr Haar, er nahm ihr Gesicht in beide Hände und sagte irgendetwas. Sie lächelte und küsste ihn auf den Mund. Er fürchtete, den Verstand zu verlieren, er wollte schreien, rufen: »Nehmen Sie die Hände weg von meiner Marie, sie ist das Kostbarste auf der Welt für mich.« Aber er war wie gelähmt, dann begann ein heftiges Zittern, er sank auf den Sessel, alles drehte sich. Er fürchtete, sich übergeben zu müssen, sein Puls raste. Er schaute wieder hinüber, grad als das Paar in der Wohnung verschwand und sie die Vorhänge zuzog. Er versuchte, sich zu beruhigen, wahrscheinlich war er einfach nur einer kurzen Halluzination aufgesessen, das konnte ja mal passieren, so ausgezehrt wie er war. Morgen würde wieder alles so sein wie immer. Er sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Am nächsten Morgen wusste er erst nicht, wo er war und was passiert war. Sein Blick raste hinüber zu dem Balkon. Und da saß sie, wie immer, nur das Haar war aufgelöst. Doch plötzlich trat der Mann von gestern mit einem Tablett auf den Balkon und küsste sie auf den Scheitel. Sie tranken Kaffee und aßen Croissants. Einfach so, als sei es das Normalste der Welt, auf einem Balkon zu frühstücken. Sie lachten, sie warf ihr Haar in den Nacken, er griff nach ihrer Hand und schmiegte seine Wange an ihre zarte Haut. Dann verschwanden sie wieder in der Wohnung. Am späteren Abend erschienen beide erneut auf dem Balkon, jeder mit einem Glas Wein in der Hand. Sie zündete ein Windlicht an. Im Schein der Kerze war Marie so unwirklich schön, dass er sich kaum zu atmen getraute.

      Am nächsten Tag war der Mann weg, und sie hatten die Woche wieder für sich allein. Wahrscheinlich hatte er sich doch alles nur eingebildet. Dann erschien der Mann aber eines Tages wieder. Und die Qualen gingen von vorne los: Küsse, Umarmungen und der Rückzug in die Wohnung, aus der er ganz und gar ausgeschlossen war. Der Mann erschien in einem nicht vorhersehbaren Rhythmus, was ihn ganz krank machte, da er sich nicht einstellen konnte, auf den Alptraum, in den er dann geriet. Er hatte bis dahin Empfindungen wie rasende Eifersucht, Neid, Wut und des Ausgeschlossenseins nicht gekannt oder wahrgenommen, aber nun ertappte er sich sogar dabei, wie er sich vorstellte, den Mann zu töten. Einzig, dass Marie so glücklich zu sein schien, hielt ihn davon ab, auch wenn ihr Glück einen unvorstellbaren und völlig unbekannten Schmerz in ihm auslöste. Der Mann kam und ging ein ganzes Jahr lang. Inzwischen war es Herbst, dann Winter geworden. Und ihr Glück spielte sich nun vorwiegend in der Wohnung ab, nur manchmal konnte er schemenhaft seine oder ihre Gestalt hinter den Fenstern erkennen. Gelegentlich kamen beide auch zum Rauchen auf den Balkon, verzogen sich aber rasch wieder in die Wärme der Wohnung. Seinen Platz auf dem Sessel hatte er dennoch nicht aufgebeben. Er hatte ja einen Auftrag, an dem er unverdrossen festhielt. Einmal glaubte er, eine heftige Auseinandersetzung zwischen beiden zu erkennen, aber vermutlich war es nur der Wunsch des Vaters Gedanken.

      Eines Tages war Marie verschwunden. Die Blumen schwächelten und kränkelten, so ganz ohne ihre Zuwendung, und gingen irgendwann ein. Ihr trostloser, vertrockneter Zustand war ein Abbild seiner selbst. Er wartete und wartete, er rührte sich nicht vom Fleck. Vielleicht war sie in den Urlaub gefahren, aber von was sollte sie sich erholen müssen? Vielleicht war sie zu dem Mann gezogen? Oder er hatte sie entführt. Es musste ihr etwas zugestoßen sein, eine andere Erklärung hatte er nicht. Nur eines wusste er mit Sicherheit: er hatte versagt. Er verlor allen Lebensmut, er vegetierte auf seinem Sessel vor sich hin. Alles in ihm war erloschen. Er hatte bis dahin nicht gewusst, dass man sich so fühlen konnte. Tot im Leben. Ein langsam verfallener Körper und ein tauber Geist. Gelegentliche Schmerzaufwallungen waren letzte Zuckungen, bevor es ganz vorbei war. Nach Wochen dieses Elends, schlugen seine Qualen in Wut, dann in Gleichgültigkeit um. Es war ihm nun egal, ob sie noch lebte oder tot war. Er schaute auch kaum noch auf den Balkon. Und wenn, dann nur, als hinge er einem alten Ritual aus einer längst untergegangenen Welt nach. Er starrte vor sich hin, er dachte und fühlte nichts mehr. Kein Wunsch, kein Wollen, kein Begehren mehr.

      Einmal fielen ihm drei lose Seiten entgegen, als er wahllos ein paar alte Zeitungen durchblätterte. Er überflog sie, ohne jedes Interesse und blieb dann plötzlich, starr vor Schreck, an der letzten Zeile hängen. Dort stand klein gedruckt und bescheiden: Gerda von Glaser. Hastig blätterte er zurück. Der Text trug den Titel »Ein gebrochenes Herz«. Schon etwas zittrig, begann er zu lesen. Die in knappen, einfachen Sätzen geschriebene Geschichte handelte von einer Frau, deren Mann nicht etwa verstorben war, sondern der noch lebend ihr wie tot erschien, unerreichbar, in eine ferne, fremde Welt entschwunden. Die Frau, so die Pointe, konnte sich vor einem »gebrochenen Herzen« nur schützen, indem sie den Mann verließ, um überleben zu können. Viktor atmete schwer, seine Brust wurde eng, er hustete. Sein Körper wurde von einem Beben erfasst, als müsste er weinen, was er seit jeher nicht konnte. Es war eher ein trockenes, hartes Japsen, was er hervorbrachte. Was ihn am stärksten erschütterte, war die Nüchternheit des Textes, die hellsichtige Klarsicht, die ohne Verletzung, Verhöhnung und Groll auskam. Obgleich Gerda aus einer tiefen, existentiellen Not heraus geschrieben haben musste, ging es einzig ums Überleben, nicht um Schuldzuweisungen. Viktor schleppte sich zu seinem Sessel und sackte zusammen.

      Als er am nächsten Tag Marie wieder auf dem Balkon erblickte, war alles anders. In ihm waren weder Glücksgefühle noch Erleichterung. Auch kein Groll. Er hatte sie aufgegeben, wie er sich aufgegeben hatte. Er nahm ihre Anwesenheit zur Kenntnis, mehr nicht. Aber auch an Marie war etwas anders. Ihr Leuchten, ihre Anmut waren fast verschwunden. Sie bewegte sich langsamer, wie in Zeitlupe, sie kümmerte sich wieder um ihre Pflanzen, aber es schien ihr keine Freude mehr zu bereiten. Meist saß sie nur da, rauchte und blickte in den Himmel. Zwar war er noch immer an seinen Platz gefesselt, aber ganz trüb und richtungslos war sein Blick geworden.

      Es musste Wochen später gewesen sein, als das Telefon läutete. Er kannte den Klang nicht, es klingelte ja auch nie. Weder die Kinder noch Gerda riefen mehr an. Für einen Moment wusste er auch nicht, wo das Telefon eigentlich stand. Er schlurfte in die Diele, nahm den Hörer ab und sagte: »Ja, bitte«, er räusperte sich, seine Stimme war vollkommen eingerostet und ihm fremd. »Hier ist Professor Schreiber, werter Kollege, bitte entschuldigen Sie die Störung, aber ich bräuchte Ihren Rat. Ich habe hier eine junge Frau auf dem Tisch, so um die dreißig, aber ich werde aus ihrer Todesursache nicht schlau.«

      Viktor wurde einen Moment lang schwarz vor Augen. Und er erinnerte sich plötzlich an eine längst vergessene Szene, wie ihn sein damaliger Chef, als er noch unerfahrener Assistenzarzt war, zu sich zitierte und ihn wieder nur mit ›Glaser‹ ansprach. Das ›von‹ ließ er immer weg, das