In der guten alten Zeit hatten die sechs Stockwerke des Vorderhauses und das fünfstöckige Hinterhaus ganz den Larnaudies gehört. Brüder, Schwestern, Cousins, Neffen, Großeltern hatten sich die Etagen aufgeteilt und vermieteten die übrigen Wohnungen an Bürger, die sich in diesem neuen Viertel niederließen. Im sechsten Stock waren die Dienstmädchen untergebracht, die sich um die ganze kleine Gesellschaft kümmerten. Im Laufe der Generationen, der Hochzeiten und der Umzüge hatten die Larnaudies nach und nach verkauft. Hubert wurde nie müde, angesichts der aktuellen Quadratmeterpreise den Unverstand seiner Familie zu beklagen: Bis in die fünfziger Jahre hatte ihr der dritte Stock auf der Hofseite noch gehört, doch sein Großvater hatte ihn überstürzt und weit unter Preis verkauft, um seine schlechte Anlage in Aktien des Suez-Kanals, die sich in Rauch aufgelöst hatten, zu kompensieren. Nach sechs Generationen waren von diesem fabelhaften Familienbesitz nur noch der dritte Stock zur Straßenseite, ein Dachboden und ein Keller übrig.
Hubert bewahrte in einem Schrank mit den Familienunterlagen die Originalpläne des Hauses auf, von den Architekten des Second Empire mit der Feder gezeichnet; er wusste, wo sich die tragenden Wände der Etagen befanden, wie die Mädchenkammern aussahen, bevor man sie in Studios umgewandelt hatte, wo sich die Schornsteinrohre der verschwundenen Kamine und die Wasseranschlüsse befanden, die früher dem Personal gedient hatten, er kannte sogar die Namen der Mieter und der Concierges, die lange vor seiner Geburt dort gelebt hatten, weil sein Vater oder sein Onkel von ihnen erzählt hatte. Er übernahm es auch höchstpersönlich, dreimal im Jahr die Fahrstuhlkabine mit Wachs zu polieren. Der Mechanismus war zwar im Lauf der Jahre komplett ausgewechselt worden, aber an der Mahagonikabine mit ihrer Deckenleuchte aus Lalique-Kristall, ihren Glastüren mit den Messinggriffen in Blumenform hatte sich nichts geändert. Sie stammte von 1911. In jenem Jahr hatte Anatole Larnaudie, Huberts Ururgroßvater, Hausältester und alter Griesgram, beschlossen, den Sprung in die Modernität zu wagen und die Nummer 18 mit einem Fahrstuhl auszustatten. Der Familienrat war dagegen. Allein gegen den Willen seiner Nachfahren hatte Anatole Larnaudie die beträchtliche Summe, die der Einbau eines Fahrstuhls damals kostete, aus eigener Tasche bezahlt. Davon zeugte die eisige Ironie der Inschrift, die er ins Holz der Kabine hatte gravieren lassen: Gestiftet von ihrem Wohltäter Anatole Larnaudie – erste Auffahrt in den fünften Stock am 21. September 1911. Die dankbaren Eigentümer und Mieter.
Nachdem er die Abrechnung für das vergangene Jahr vorgelegt und die derzeitigen Tunnelarbeiten unter dem Gebäude angesprochen hatte, die in den Kellern Risse verursachen konnten, kam er zu einem Punkt, den er als absolut dringlich erachtete.
»Die Türen der Kelleröffnung zur Straßenseite sind kaputt. Es muss schleunigst ein Schlosser beauftragt werden, denn so kann Hinz und Kunz in unsere Keller eindringen. In der Nachbarschaft sind Einbrüche gemeldet worden …«, schloss Hubert in düsterem Ton.
»Wofür sind diese Türen eigentlich gut?«, fragte Monsieur Berthier.
»Für Kohlelieferungen natürlich«, antwortete Hubert, als verstünde sich das von selbst. »Jeder Keller besaß sein Kohlenlager, und alle Wohnungen hatten in jedem Raum einen Kaminofen.«
Die Miteigentümer nickten und dachten verwundert an ihre verschwundenen Kaminöfen.
»Die Schlosserei TTS wird gleich morgen früh beauftragt, Monsieur Larnaudie«, erklärte Mademoiselle Prusin. »Punkt Sieben: Zusammenleben im Haus. Madame Merlino, die nicht anwesend ist und Monsieur Larnaudie ihre Vollmacht erteilt hat, weist darauf hin, dass der Gemeinschaftskeller mit Gerümpel vollsteht, das die Eigentümer seit Jahren dort gelagert haben. Wir könnten – ich zitiere die E-Mail von Madame Merlino – unsere Keller aufräumen, in den Gemeinschaftskeller stellen, was wir nicht behalten wollen, und eine Entrümpelungsfirma kommen lassen, um das alles abzutransportieren. Was halten Sie davon?«, fragte Mademoiselle Prusin.
Hubert dachte an seine beiden Keller, in denen sich ein unglaubliches Sammelsurium stapelte, das weit über beide Weltkriege zurückreichte. Niemals hatte er seinen Vater daran rühren sehen, niemals hatte er selbst daran gerührt. Die Gegenstände häuften sich an und bildeten die geologischen Schichten der Generationen. Man warf in jener Zeit nichts weg; man »stellte es im Keller unter«. Hubert hatte es genauso gemacht: Auch er hatte seinen Beitrag zur Familiengeschichte geleistet, indem er Kinderfahrräder, Kuscheltiere, Spieltische, Hocker, Bücherkisten, Aquarien und Plattenspieler darin abstellte. Ordnung da hineinzubringen verhieß ein anstrengendes Wochenende voller Staub, Spinnweben und Melancholie.
Mog, der Kater des Hauses, war der Jahreszeit voraus und lag in einem tiefen, vorwinterlichen Komaschlaf auf der Wohnzimmerheizung. Als Hubert den Raum betrat, öffnete er ein Auge, um es sofort wieder zu schließen und sich weiter seinen Katzenträumen hinzugeben. Hubert strich ihm übers Fell, der Kater antwortete mit einer Schwanzbewegung. Allein in seiner Wohnung grübelte Hubert bei einem Whisky über diese Kelleraufräumaktion nach, die Madame Merlino vorgeschlagen hatte und die von allen anstandslos angenommen worden war, als sein iPhone klingelte und auf dem Display Charlotte erschien, der Vorname seiner Frau. Es war Mitte September, und Charlotte verlängerte die Sommerferien mit ihrer Kindheitsfreundin Chantal in ihrem Haus in Noirmoutier. Fern von ihren Ehemännern und Kindern ließen es sich die beiden Frauen ganz offensichtlich gut gehen: Sie waren auf einem Trödel- und auf einem Biomarkt gewesen und probierten jetzt ein Fischrezept aus einem alten Kochbuch der regionalen Küche aus, das sie auf dem Flohmarkt gekauft hatten.
»Du kochst dir doch heute Abend etwas, oder?«
»Ja, ja, natürlich«, antwortete Hubert und bemerkte nebenbei, dass die Frage seiner Frau eher wie ein Vorwurf klang, ja wie ein Befehl, den er besser schnellstens ausführen sollte.
Nachdem er aufgelegt hatte, dachte Hubert, dass seine Kinder, Camille und Olivier, in letzter Zeit nicht viel von sich hören ließen. Sie studierten beide fern von der Rue Edgar-Charellier.
Er öffnete den Kühlschrank und betrachtete schweigend dessen Inhalt. Er hatte es versäumt, einkaufen zu gehen, und was übrig war, erschien ihm wenig verlockend. Er schloss die Tür wieder und löschte das Küchenlicht. Aus dem Schubfach der Flurkommode nahm er einen Schlüsselbund, eine Taschenlampe, und schlug die Wohnungstür hinter sich zu.
Die Tür seines Kellers öffnete sich mit einem unheimlichen Knarzen. »Mein Gott«, murmelte Hubert, »es ist schlimmer als in meiner Erinnerung.« Der Strahl der Taschenlampe schweifte über einen zusammengewürfelten Haufen, der über zwei Meter hoch war und aus verschiedensten Dingen bestand, von Camilles altem Kinderhochstuhl bis hin zu der französischen Flagge, die bei der Befreiung von Paris geschwenkt worden war, über eine Standuhr ohne Zeiger, die er noch nie bemerkt hatte, und einen Soldatenhelm von 1914. Hubert verfluchte seine Vorfahren, die es ihm überlassen hatten, über hundert Jahre Unordnung aufzuräumen. Tastend suchte er nach der alten Handlampe, um sie an einen Nagel zu hängen und im Flur anzuschließen. Das Licht ergoss sich mit einem Schlag über das Gerümpel, als wollte es sagen: Hier! Alles für dich!
»Was für ein Wahnsinn«, schimpfte Hubert vor sich hin, als er Hunderte von Ausgaben der Zeitschrift L’Illustration aus den Jahrgängen ab 1910 fand.
Warum zum Teufel hatten sie diese Stapel von Zeitschriften behalten, von denen jeder so schwer hochzuheben war wie ein schlafender Labrador? Hätten sie sie nicht in den Papierkorb werfen können, nachdem sie sie gelesen hatten, wie alle Welt es tat? Angelruten, die wohl zwischen den Kriegen bei Landpartien dabei gewesen waren, lagen vor einer Wand auf dem Boden. Er ließ den Blick über staubbedeckte Schwarzweißstiche wandern, die Szenen eines Schlosslebens zeigten: Abendessen bei Kerzenlicht mit gepuderten Perücken, Blindekuh-Spiele im Park. Huberts Anzug bedeckte sich mit dem Staub der Jahrzehnte, und er musste niesen, dabei stolperte er über den Stiel einer Schaufel und fiel der Länge nach in einen Haufen, der aus Zinntellern, einem Kandelaber, einem Nachttisch, einer Winde und alten Bücherkisten bestand, die seinen Sturz bremsten. Mit beiden Händen auf den gestampften Lehmboden gestützt,