Sie fing an zu plaudern. Ob er Istanbul gut kenne? Ob er schon einmal hier gewesen sei? Ob er Paris kenne und London? Er sei wirklich zu beneiden. Sie sei in beiden Städten noch nicht gewesen, wolle aber unbedingt einmal dorthin. Nach Stockholm auch. Ob er viele Freunde in Istanbul habe? Unmittelbar nach ihm und seinem Freund sei nämlich ein Herr in die Bar gekommen, der ihn offenbar kenne. Denn er beobachte ihn.
Graham hatte sich schon überlegt, wie er möglichst bald hier wegkam. Plötzlich merkte er, dass sie auf eine Antwort von ihm wartete. Unbewusst hatte er ihre letzte Bemerkung aufgeschnappt.
»Wer beobachtet mich?«
»Wir können ihn jetzt nicht sehen. Der Herr sitzt an der Bar.«
»Bestimmt beobachtet er dich.« Ihm fiel nichts anderes ein.
Aber sie meinte es offensichtlich ernst. »Er ist an Ihnen interessiert, Monsieur. Der Herr dort mit dem Taschentuch in der rechten Hand.«
Sie befanden sich jetzt an einer Stelle der Tanzfläche, von wo aus er die Bar überblicken konnte. Der Mann saß auf einem Hocker und hatte ein Glas Wermut vor sich.
Es war ein kleiner, dünner Mann mit einem stumpfsinnigen, sehr knochigen Gesicht mit großen Nasenlöchern, hohen Wangenknochen und vollen Lippen, die er aufeinanderpresste, als hätte er Zahnweh oder als müsste er sich krampfhaft beherrschen. Er war ungewöhnlich bleich, sodass die kleinen, tiefliegenden Augen und die dünnen, lockigen Haare dunkler erschienen, als sie wirklich waren. Das Haar klebte ihm in Strähnen am Kopf. Er trug einen zerknitterten braunen Anzug, ein weiches Hemd und eine neue Krawatte. Während Graham ihn beobachtete, wischte er sich mit einem Taschentuch die Unterlippe ab, als mache ihm die Hitze in der Bar zu schaffen.
»Er sieht gerade nicht her«, sagte Graham. »Ich kenne ihn jedenfalls nicht.«
»Das glaube ich auch nicht, Monsieur.« Sie drückte seinen Arm mit dem Ellbogen an ihre Seite. »Aber ich wollte ganz sicher sein. Ich kenne ihn auch nicht, aber dieser Typ ist mir vertraut. Sie sind fremd hier, Monsieur, und Sie haben vielleicht Geld bei sich. Istanbul ist nicht Stockholm. Wenn solche Typen Sie mehr als einmal ansehen, sollte man aufpassen. Sie sind stark, aber ein Messer im Rücken kommt für einen starken Mann aufs Gleiche raus wie für einen schwachen.«
Ihre ernste Art war grotesk. Er lachte, sah aber noch einmal hinüber zu dem Mann, der mit einem Glas Wermut an der Bar saß. Eine harmlose Gestalt. Wahrscheinlich wollte das Mädchen ihm nur auf etwas tollpatschige Art klarmachen, dass sie selbst vertrauenswürdig sei.
Er sagte: »Ich glaube, ich brauche mir keine Sorgen zu machen.«
Der Druck auf seinem Arm ließ ein wenig nach. »Vielleicht.« Plötzlich schien sie das Thema nicht mehr zu interessieren. Die Kapelle hörte auf zu spielen, und sie kehrten zu ihrem Tisch zurück.
»Sie tanzt sehr gut, nicht?«, sagte Kopejkin.
»Sehr.«
Sie schenkte ihnen ein Lächeln, setzte sich und leerte durstig ihr Glas. Dann lehnte sie sich zurück. »Wir sind zu dritt«, sagte sie, mit dem Finger zählend, damit auch alle verstanden. »Soll ich eine Freundin von mir holen, dann können wir zu viert trinken? Sie ist sehr sympathisch. Sie ist meine beste Freundin.«
»Später, vielleicht«, sagte Kopejkin. Er schenkte ihr wieder ein.
In diesem Moment spielte die Kapelle einen Tusch, und die meisten Lichter gingen aus. Ein Scheinwerfer huschte über die freie Fläche vor dem Podium.
»Die Attraktionen«, sagte Maria, »sind sehr gut.«
Serge trat in den Lichtkegel, leierte eine lange Ansage auf Türkisch herunter und wies abschließend mit schwungvoller Geste auf eine Tür neben dem Podium. Daraufhin stürmten zwei junge Männer in hellblauem Smoking heraus und legten einen energischen Stepptanz hin. Bald japsten sie nach Luft, und ihre Haare waren zerzaust, aber am Ende bekamen sie nur lauwarmen Beifall. Dann klebten sie sich falsche Bärte an und spielten zwei torkelnde alte Männer. Die Begeisterung des Publikums hielt sich auch diesmal in Grenzen. Schweißgebadet – und ziemlich beleidigt, wie Graham fand – zogen sie ab. Dann trat eine langbeinige schwarze Schönheit auf, die eine artistische Nummer präsentierte. Ihre unbefangen obszönen Verrenkungen lösten Lachsalven aus. Auf Zurufe zeigte sie dann noch einen Schlangentanz, der ihr aber weniger gut gelang, da die Schlange, die so vorsichtig aus einem vergoldeten Weidenkorb hervorgeholt wurde, als handelte es sich um eine ausgewachsene Anakonda, sich als mickrige und ziemlich altersschwache Python herausstellte, die am liebsten in den Händen ihrer Herrin eingeschlafen wäre. Schließlich wurde sie in den Korb zurückgelegt, und die Farbige machte noch ein paar Verrenkungen, bevor sie verschwand. Dann trat der Besitzer wieder in das Scheinwerferlicht und machte eine Ansage, die mit Klatschen aufgenommen wurde.
Das Mädchen flüsterte Graham ins Ohr. »Jetzt sind Josette und ihr Partner José dran. Ein Paar aus Paris. Heute ist ihr letzter Abend. Sie hatten bombastischen Erfolg.«
Rosa Scheinwerferlicht schwenkte zur Eingangstür, ein Trommelwirbel ertönte, und während die Kapelle den Donauwalzer zu spielen begann, kamen die beiden Tänzer heraus.
Für den übermüdeten Graham war ihr Tanz ein genauso typisches Element eines Nachtclubs wie die Bar und das Podium für die Kapelle. Damit ließen sich die Getränkepreise rechtfertigen, und es bewies, dass ein kleiner, ungesund aussehender Mann mit einer breiten Schärpe um den Bauch unter Anwendung der Gesetze der klassischen Mechanik eine fünfzig Kilo schwere Frau wie ein Kind herumwirbeln konnte. Josette und ihr Partner waren nur insofern bemerkenswert, als sie ihre Standarddarbietungen keineswegs perfekt beherrschten, dafür aber sehr viel effektvoller vorführten.
Die Frau war schlank, hatte schöne Arme und Schultern und üppiges, blond schimmerndes Haar. Die Augen, deren schwere Lider beim Tanzen halb geschlossen waren, und die vollen, zu einem maskenhaft starren Lächeln verzogenen Lippen standen in einem merkwürdigen Widerspruch zu der Leichtigkeit ihrer Bewegungen. Graham sah, dass sie keine Tänzerin war, sondern eine Frau, die ihre Bewegungen einstudiert hatte und sie nun mit lasziver Sinnlichkeit vorführte, wobei sie sich voll auf die Wirkung ihres jugendlichen Körpers, ihrer langen Beine und des Spiels der Muskeln von Schenkeln und Bauch verließ. Wenn ihre Darbietung künstlerisch nicht überzeugte, als Attraktion im Le Jockey Cabaret war sie ein enormer Erfolg, und das trotz ihres Partners.
Der war ein dunkler, angestrengt wirkender Mann mit schmalen Lippen, einem blassen Gesicht und der irritierenden Angewohnheit, vor jeder größeren Kraftanstrengung die Zunge in die Backe zu klemmen. Er bewegte sich plump, und sooft er sich anschickte, seine Partnerin hochzuheben, wirkte der Griff seiner Hände unsicher, als wüsste er nicht genau, wo er anzusetzen hatte.
Doch das Interesse des Publikums galt nicht ihm, und am Ende ihrer Darbietung wurde laut nach einer Zugabe gerufen. Der Wunsch wurde erfüllt, die Kapelle spielte wieder einen Tusch, Mademoiselle Josette verbeugte sich, und Serge überreichte ihr einen Blumenstrauß. Sie kam mehrmals heraus, verbeugte sich und warf Kusshände.
»Sie ist wundervoll, nicht?«, sagte Kopejkin auf Englisch, als das Licht wieder anging. »Ich habe Ihnen ja versprochen, dass man hier prima unterhalten wird.«
»Sie ist nicht schlecht. Aber dieser mottenzerfressene Valentino kann einem leidtun.«
»José? Der kommt schon nicht zu kurz. Möchten Sie sie zu einem Drink einladen?«
»Sehr gern. Aber wird das nicht ziemlich teuer?«
»Um Himmels willen, nein. Sie kriegt keine Provision.«
»Wird sie denn kommen?«
»Natürlich. Serge hat mich ihr vorgestellt. Ich kenne sie gut. Sie könnte Ihnen gefallen. Diese Ägypterin ist ein bisschen dumm. Josette ist sicher auch dumm, aber auf ihre Weise sehr anziehend.