Er trat in das ziemlich verwüstete Zimmer, in dem ein ganzer Kleiderschrank auf dem Boden verstreut lag. Das Mädchen setzte sich auf die Bettkannte und sah ihn fragend an.
„Vittoria, ist es richtig, dass du mit Estella Orsini befreundet bist?“
„Ja, warum?“
„Hast du mitbekommen, dass sie vermisst wird?“
„Ach deshalb…“
„Was?“
„Ihre Schwester rief mich an und fragte, ob sie mit mir im Musikunterricht war.“
„Und war sie?“
„Nein, aber das habe ich ihr doch schon am Telefon gesagt.“
„Aber du hast sie gesehen?“
„Ja.“
„Und wo?“
„In Portogruaro.“
Bellucci hatte das Gefühl, dass sie etwas verschwieg.
„Wo genau?“
Sie blickte unter sich.
„Weiß nicht mehr. Irgendwo da.“
„Vittoria, deine Freundin wird vermisst und ihre Familie macht sich große Sorgen. Es bringt also nichts, wenn du irgendetwas weißt und mir nicht sagen willst. Damit schadest du ihr nur. Ist das klar?“
Sie nickte stumm, dann gab sie sich einen Ruck.
„Kurz vor dem Unterricht sah ich sie an der Stretta, wo auch der Unterricht ist. Sie sprach mit einem Mann.“
„Und wie sah der Mann aus? Kannst du ihn beschreiben?“
„Er war schon ziemlich alt.“
„Wie alt? Siebzig, achtzig?“
„Nein, so wie Sie etwa.“
Bellucci musste schmunzeln.
„Also Ende dreißig. Wie war er gekleidet?“
„Er hatte einen dunklen Anzug an. Ich hatte mich schon gewundert, weil es so warm war.“
„Wie würdest du seine Kleidung werten? War sie teuer oder eher einfach?“
Sie überlegte kurz.
„Sie war ziemlich modern, wie in diesen Magazinen. Also eher teuer, denke ich.“
„Ist dir sonst noch etwas aufgefallen? Wie sah er aus? War er groß, oder eher klein? Welche Haarfarbe hatte er?“
„Er sah eigentlich ziemlich gut aus für sein Alter. Er hatte schwarze Haare, ziemlich kurz geschnitten an den Seiten und oben etwas länger und nach hinten gekämmt. Sah aus, als wäre er viel in der Sonne.“
„Also ein gebräunter Teint.“
„Genau.“
„Und wie sah diese Unterhaltung aus? Hatten sie Streit?“
„Nein, im Gegenteil. Sie haben beide gelacht. Aber ich bin ja dann zum Unterricht. Meine Mutter erschlägt mich, wenn ich schwänzen würde.“
„Verstehe. Und danach hast du sie nicht mehr gesehen? Denk bitte genau nach.“
Sie sah wieder auf ihre Fußspitzen.
„Doch, aber ich habe versprochen es nicht weiter zu erzählen.“
„Du musst es mir aber sagen, wenn du deiner Freundin helfen willst. Also…?“
„Nach dem Unterricht wollte ich zur Bushaltestelle und da sah ich sie in einem Café sitzen.“
„Wo war das?“
„Direkt am Corso Martiri della Libertà. La Piazzetta hieß es.“
„Ah, das kenne ich. Hast du dort mit ihr gesprochen?“
„Ja, aber nur kurz. Sie sagte mir etwas von einem Job mit Parfüm und dass sie schon Geld bekommen hätte. Dann sollte ich verschwinden, weil sie gleich abgeholt würde.“
„Und dann?“
„Ich versprach ihr nichts zu verraten und bin gegangen. Ich wollte ja den Bus nicht verpassen.“
„Gut, fällt dir sonst noch etwas ein?“
„Ja, als ich an der Bushaltestelle stand, ist sie an mir vorbeigefahren.“
„Welche Haltestelle war das?“
„Die an der Viale Daniele Manin. Ich nehme immer die Linie 2.“
„Und in welche Richtung sind sie gefahren?“
„In die Richtung wo der Fluss ist.“
„Also nach Westen.“
„Kann sein. Ich hab‘s nicht so mit Himmelsrichtungen.“
In diesem Moment flog die Tür auf und die Signora erschien im Zimmer.
„Dauert das noch lange? Mein Mann kommt gleich und ich will nicht, dass er das mitbekommt.“
„Nein, wir sind gleich fertig. Wenn Sie uns noch für eine Minute alleine lassen könnten.“
Widerwillig schloss sie die Tür, nicht ohne ihrer Tochter einen missbilligenden Blick zuzuwerfen.
„Vittoria, bist du sicher, dass deine Freundin in diesem Wagen saß?“
„Ja sicher, sie hat mir ja noch zugewinkt.“
„Weißt du auch noch, um welchen Typ es sich bei dem Auto gehandelt hat?“
„Ein großer BMW. Ich glaube ein 5er. Und schwarz war er.“
„Hast du auch das Nummernschild erkennen können?“
„Da hab ich nicht drauf geachtet. Ist ihr was passiert?“
„Das wissen wir noch nicht. Sie wird zunächst einmal vermisst.“
Bellucci erhob sich und ging zur Tür.
„Danke Vittoria, du hast mir sehr geholfen.“
3
Nachdem der Sergente gegangen war, hatte Signora Orsini ihren Mann angerufen. Er war völlig außer sich und versprach sofort nach Hause zu kommen. Erst müsste er sich aber noch beim Patriarchen abmelden, der aber sicher Verständnis haben würde.
„Es ist schon sehr spät, mein lieber Orsini“, empfing ihn der Bischof, „was führt sie um diese Zeit noch zu mir?“
„Ich bitte um Verzeihung Exzellenz, aber ich wollte um Erlaubnis nachfragen, nach Hause fahren zu dürfen.“
„Wenn Sie mit Ihren Aufgaben fertig sind, natürlich. Ist etwas geschehen?“
„Das ist es ja. Ich hätte noch zu tun, aber meine Tochter ist verschwunden und ich möchte meiner Frau beistehen.“
„Heilige Mutter Gottes. Was ist passiert?“
„Ich weiß es auch noch nicht so genau. Meine Frau rief mich vorhin an und sagte, dass sie nicht vom Musikunterricht heimgekehrt sei und die Polizei eine Vermisstenanzeige aufgenommen habe.“
„In diesem Fall können Sie natürlich gehen. Gott wird Ihre Tochter schützen und ich werde sie in meine Gebete mit einbeziehen.“
Orsini verbeugte sich.
„Vielen Dank Exzellenz. Danke.“
Er verließ das Gebäude des Patriarchats neben der Basilica di San Marco und eilte zu einem Wassertaxi an der Piazza San Marco, um sich schnellst möglich zur Isola Tronchetto bringen zu lassen, wo sein Auto in einem Parkhaus abgestellt war.
Mit dem Vaporetto würde die Fahrt zu lange dauern, auch wenn ihn diese Fahrt jetzt ein Vermögen kosten würde.
Als