Wenn dann aber Dünung auftaucht, belebt sich für mich das Meer wieder, es beginnt zu atmen und wird damit menschlicher. Es reduziert seine erhabene Erscheinung auf ein menschliches Maß, auf eine Dimension, die der Mensch aushalten kann. Protagoras hat einmal gesagt, der Mensch sei das Maß aller Dinge. Dies sollte man aber nicht so verstehen, dass der Mensch das Maß setzt, sondern dass nur die auf menschliches Maß reduzierten Gegebenheiten für ihn überhaupt seelisch auf Dauer auszuhalten sind. Und deshalb mag ich die Dünung, weil das Atmen der See meinem Atmen entspricht.
Das Schweigen der See
Es kam langsam über uns. Seit Wochen kreuzten wir vor der westafrikanischen Sahara, nahmen meeresbiologische Proben, arbeiteten in den Laboratorien, aßen unsere Mahlzeiten und schliefen oder wachten in den Nächten entsprechend unserer Arbeitsrhythmen. Das Wetter war gut, sonnig, warm, mit mittelstarken Winden, die eine leicht bewegte See zur Folge hatten. Es war schön, an Deck zu arbeiten und die Vorzüge der Forschung in tropischen Breiten zu genießen. Gelegentlich konnte sich der eine oder andere sogar ein kleines Mittagsschläfchen auf dem Peildeck oder der Back leisten.
Aber dann begann sich der Himmel allmählich zu verfärben. Das Blau des Himmels bekam eine gelbliche oder leicht bräunliche Note, die immer stärker zu werden schien. In den nächsten Tagen war das Phänomen auch ohne besondere Aufmerksamkeit von allen zu beobachten. Gelbliche Schwaden trieben in entsprechender Höhe wie dünne Wolken langsam über die See, dämpften das Sonnenlicht und ließen die Kollegen immer öfter und intensiver als sonst üblich in den Himmel schauen. Der Wind ließ langsam nach.
Viel gesprochen wurde nicht darüber, denn jeder wusste, was diese Verfärbungen zu bedeuten hatten: In der Höhe trugen ablandige Winde Saharastaub über das Meer. Die große Wüste griff über das Land hinaus und versuchte, sich auch des Meeres zu bemächtigen. Aber vorerst waren es nur Staubschwaden in großer Höhe.
Das änderte sich über Nacht. Als wir morgens an Deck kamen, schlug uns eine ungewohnte Hitze entgegen und alle Gegenstände, egal ob Deck, Probengeräte, Winden, Unterstände, Reling, Taue oder was sich sonst noch im Freien befand, waren mit einer Schicht rötlich braunen Staubes bedeckt. Die Atmosphäre war angefüllt mit diesem sehr feinen Sand, so dass die ganze Umgebung einen braunen Ton aufwies. Die Fernsicht war extrem eingeschränkt und sank auf unter eine Meile. Das Wasser war ebenfalls mit einer braunen Schicht bedeckt, die kleinen Wellen wirkten schmutzig, die Schaumstreifen, die wir mit unseren Geräten erzeugten erinnerten an einen mit Schlammstoffen angefüllten Tümpel.
Die höhersteigende Sonne drang mit ihren Strahlen kaum noch bis zur Wasseroberfläche durch und stand als matte, bläuliche Scheibe an einem braunen Himmel. Hatten wir draußen zu tun, so bedeckten sich bald die Haare mit Saharastaub, der auch auf der Haut klebte, bis unter die Kleidung drang und in den Augen unangenehm rieb. Die Mannschaft aktivierte die Wasserschläuche, spritzte alles in die See, aber nach nur wenigen Minuten ließ sich eine neue Staubschicht auf dem sonst schwarzen Deck entdecken.
Wir waren in einen „Outburst“ geraten, einen durch bestimmte Luftmassenbewegungen ausgelösten seewärtigen Transport von feinstem Saharastaub. So etwas ist vor Westafrika keine Seltenheit und seit Jahrhunderten bekannt. Angeblich sollen sogar in früheren Zeiten Schiffe dank der Unsichtigkeit der Atmosphäre gestrandet sein. In der Tat verschwand alles, Luft, Meer, Horizont, ja selbst die nächste Umgebung in dieser staubigen, fast keine vernünftigen Entfernungsschätzung zulassenden Staubwalze. Wir waren vollkommen isoliert, das Meer, dieser uns seit Jahren vertraute Lebensraum hatte von einem zum anderen Tag seinen so typischen Charakter verloren und wirkte bedrohlich, abweisend und auf eine mir bisher nicht bekannte Art fremd.
Wind und Seegang hatten aufgehört, Akzente zu setzen. Es gab nichts mehr auf der Welt als die braune Umgebung, die es unmöglich machte, in weiterer Entfernung zwischen See und Luft zu unterscheiden. Über der ganzen düsteren Szenerie lag zudem eine unheimliche Stille. Kein Vogel besuchte das Schiff, kein Krächzen unterbrach das grauenvolle Schweigen im Inneren dieses fliegenden Sandberges. Kein Fisch oder Wal durchbrach die träge schwingende Wasseroberfläche. Das Meer war erstorben. Unsere Stimmen klangen merkwürdig gedämpft, möglicherweise „schluckte“ der Staub einen großen Teil des Schalls, sodass die Geräusche wie durch Watte an unser Ohr drangen. Aber diese wenigen Geräusche stammten nur vom Schiff, es gab keine Klänge mehr, die aus der Natur stammten.
Ich kletterte auf das Peildeck und mit jedem Meter stieg die Temperatur fühlbar. Klaus, unser Bordmeteorologe, hatte ein paar Messungen gemacht und dabei festgestellt, dass wir in einer „verdrehten“ Wetterlage steckten. Im Gegensatz zum Üblichen nahm die Temperatur mit der Höhe zu. Auf dem Arbeitsdeck hatten wir 25° C, in 10 m Höhe jedoch 35° C, also pro Meter Höhenunterschied eine Temperaturdifferenz von einem Grad. Oben hätte ich eigentlich schwitzen müssen. Aber nichts dergleichen, unsere Messungen hatten auch ergeben, dass die Luft derart trocken war, dass selbst eine aus dem Kühlschrank entnommene Getränkeflasche sich nicht mit dem üblichen Kondenswasser überzog. In dieser Luft war praktisch kein Wasser mehr enthalten. Das ist die Todesluft, die die Körper austrocknet und jeden Saharareisenden dazu zwingt, mindestens sechs Liter Wasser pro Tag mitzuführen und auch zu sich zu nehmen. Das Körperwasser dringt aus allen Poren, formt aber keine Schweißtropfen mehr. Es verdunstet sofort. Neues Wasser wird aus dem Körper nachgeliefert und langsam trocknet man ein. Wer dann nicht genügend trinkt, stirbt. Unter Umständen noch vor Sonnenuntergang desselben Tages.
Die Aussicht vom Peildeck war trostlos. Eine undurchdringlich braune Umgebung ohne Grenzen, ohne Konturen. Die Sonne stand zwar nun fast im Zenit, aber die Helligkeit erinnerte eher an den frühen Morgen. Ein paar matte, bläulich wirkende Lichtpunkte auf der See waren nur eine schwache Erinnerung an das Lichtfest, das normalerweise die große Spiegelfläche des Meeres erzeugt. Aber überwältigend war und blieb die große Stille, die über der Szenerie lag und das Ungeheure der Situation noch steigerte. Nicht einmal die Geräusche der arbeitenden Männer drangen zu mir auf die oberste Plattform des Schiffes. Es war buchstäblich nichts zu hören.
Diese absolute Stille hatte ich schon einmal erlebt. Am Ruinenhügel der antiken Nabatäerstadt Avdat in der Negevwüste. Nach einer Besichtigung der Ruinen, der Straßenzüge und der alten, mit fremden und unverständlichen Schriftzeichen versehenen Steine einer vor 2000 Jahren untergegangenen Welt war ich die Böschung des Stadthügels wenige Meter hinuntergeklettert und hatte mich in den Sand gesetzt. Hier herrschte das völlig lautlose Schweigen der Wüste. Selbst der leichte Wind erzeugte keine Geräusche in meinen Ohrmuscheln, denn ich saß in einer windgeschützten Mulde, die in ihrer völligen Bedeutungslosigkeit von dem Lufthauch keines Besuches gewürdigt wurde.
Ich schaute über die umliegenden sandfarbenen Hügel in eine scheinbar erstorbene und von dem Gang der Geschehnisse vergessene Landschaft. Weiter hinten erkannte ich zwei oder drei weidende Dromedare, die wahrscheinlich einer in der Nähe wohnenden Nomadenfamilie gehört haben dürften. Dieses große Schweigen war beängstigend und die Tugend eines Wüsteneremiten besteht wahrscheinlich nicht darin, in unfruchtbarem Land allein zu leben, sondern dieses alles durchdringende Schweigen auf längere Zeit auszuhalten.
Vielleicht beginnt man dann nach Jahren eigenartig zu werden und Stimmen zu vernehmen. Göttliche Stimmen oder die Einflüsterungen des Wahnsinns – wer will es wagen, zwischen beiden zu unterscheiden? So wie bei jenem längst dahingegangenen verrückten Weisen des Wadi Rum von dem uns Lawrence Kunde gibt: „Die Howeitat berichteten, dass er sein Leben lang unter ihnen herumgeirrt sei, immer so sonderbar jammernd; er kümmerte sich weder um Tag und Nacht noch um Essen, Arbeit oder Obdach. Alle wären