Clans von Cavallon (2). Der Fluch des Ozeans. Kim Forester. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kim Forester
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия: Clans von Cavallon
Жанр произведения: Природа и животные
Год издания: 0
isbn: 9783401808444
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achtundachtzig weiter. Der Siebenundachtzigste wurde übersprungen – das war Aquoro, von dem immer noch jede Spur fehlte. Aquilla blinzelte ein paar Tränen weg.

      Wenigstens war er nicht unter den Toten.

       Soweit wir wissen.

      Schließlich war sie als Dreiundneunzigste der Herde an der Reihe. »Ja«, sagte sie entschlossen. Sie war ebenfalls der Meinung, dass die Flügelbruchspitze ihre beste Chance war. Mit zitternder Stimme sprach sich schließlich auch Zadia, die Sechsundneunzigste und Jüngste der Herde, dafür aus. Als sie fertig war, sah Rostro sie erwartungsvoll an.

      »Oh!«, piepste sie. »Sprich, Jaren, Siebenundneunzigster der Herde, und teile uns deine Entscheidung mit.«

      »Ich? Echt?«, fragte Jaren.

      Aquilla war genauso überrascht wie er, versuchte aber, es sich nicht anmerken zu lassen. Zwar hatten die Ältesten Jaren in die Herde aufgenommen, aber sie hätte nicht damit gerechnet, dass die auch für Abstimmungen galt. Offenbar ging es einigen anderen ebenso, wie die Unruhe bewies, die hier und da aufkam. Doch die Ältesten sahen Jaren weiterhin abwartend an.

      Aquillas Herz schlug schneller. Die Herde konnte nichts unternehmen, wenn nicht alle einstimmig dafür waren. Dadurch besaß jede einzelne Stimme ein enormes Gewicht. Jaren war sich dessen jedoch genauso wenig bewusst wie der schrecklichen Geschichte der Flügelbruchspitze. Er wirkte einfach nur erfreut, dass er ebenfalls gefragt wurde. »Äh, also, dann sage ich wohl mal Ja, glaube ich«, stotterte er.

      Aquilla und der Rest der Herde atmeten erleichtert auf.

      Rostro nickte. »So sei es«, verkündete er. »Folgt mir. Obwohl es hundert Jahre her ist, kenne ich den Weg dorthin noch genau.«

      Sie wandten sich nach Norden. Die Sonne ging bereits unter, als die Flügelbruchspitze vor ihnen am Horizont auftauchte. Der Name passte: Auf der einen Seite stieg der Berg gleichmäßig an, ging dann aber abrupt in eine Reihe scharf abfallender Felsspitzen über, wodurch er wie ein gebrochener Flügel aussah. Der Gipfel war vollkommen kahl und die paar Bäume, die weiter unten aus dem Hang ragten, hoben sich von dem blassgrauen Fels ab wie schwärende Wunden. Aquilla lief ein Schauder über den Rücken. Nun, da sie hier waren, hätte sie am liebsten auf der Stelle kehrtgemacht.

      »Ist wahrscheinlich zu spät, um es mir noch mal anders zu überlegen, oder?«, raunte Jaren.

      Rostro führte sie über eine tiefe Spalte, die den Übergang vom sanften Berghang zur schroffen, zerfurchten Ödnis markierte. »Hier«, berichtete er, »haben wir damals unsere Waffen und Rüstungen abgeworfen. Schweif-Morgensterne, eiserne Hufglocken, Helme mit Speeraufsätzen und stachelbewehrte Flügelspitzen.«

      Bedrückt kreisten sie über der Spalte, die von knorrigen Pflanzen und Gestrüpp überwuchert war. Es fiel schwer zu glauben, dass die Waffen immer noch dort unten lagen, denn durch das dichte Unkraut war nicht das geringste metallische Funkeln auszumachen. Aquilla war ganz froh darüber.

      Die Herde ließ sich auf der zerklüfteten Seite des Berges nieder. Zwischen den kümmerlichen Bäumen würden sie zumindest ein wenig Schutz vor dem unbarmherzigen Wind finden, der über die Hänge fegte. Im grauen Licht der Abenddämmerung machten sie sich sogleich daran, ihr Nachtlager zu errichten. Einige gruben mit den Hufen Schlafkuhlen für die Fohlen in den Boden, andere suchten die Gegend nach geeigneten Höhlen ab und wieder andere gingen im spärlichen Wald auf Futterjagd. Aquilla wandte sich ab. Mit einem unguten Gefühl im Magen ließ sie den Blick über die Berge der Umgebung schweifen, die im Dämmerlicht blasslila schimmerten. Weit, weit dahinter lagen die Felder, Wälder und Städte von Cavallon.

      Jaren rutschte von ihr runter und beugte sich vor, bis er mit den Fingern seine Zehenspitzen berührte, um seinen Rücken zu dehnen und zu strecken. Der kalte Wind ließ ihn schaudern und er zog fröstelnd die Schultern hoch. Dann drehte er sich zu ihr um. »Was ist los, Aquilla?«

      Ihr Seufzer stieg als kleine Wolke in die Abendluft. »Ich hätte niemals herkommen dürfen«, antwortete sie. »Nicht ohne Aquoro. Er ist verschollen und ich stehe hier in der Gegend rum!«

      Ihr aufgebrachter Tonfall alarmierte die Pegasus in ihrer Nähe. Sie hielten inne und hoben beunruhigt die Köpfe.

      »Vielleicht solltest du dir trotzdem etwas Ruhe gönnen«, sagte Odelia sanft. »Wenigstens eine Nacht. Aquoro ist schon seit Tagen verschwunden. Vielleicht ist er schlicht …«

      »Ich kann nicht«, unterbrach Aquilla sie. Ihr Blick wanderte zurück in Richtung Cavallon. »Er ist irgendwo da draußen und nach allem, was in den Splittern passiert ist … Wenn die Zentauren, Einhörner oder Menschen ihn finden, werden sie keine Gnade walten lassen.«

      Die anderen sahen einander unsicher an. Aquilla hätte sich einfach auf den Weg machen können – es war ihre eigene Entscheidung und darüber musste nicht abgestimmt werden. Doch sie wollte, dass die sie verstanden.

      »Ich helfe dir bei der Suche«, meldete sich Selela plötzlich zu Wort. Ihre Miene war traurig, aber entschlossen. Sie kannte das Gefühl, ein Familienmitglied zu verlieren, nur allzu gut. Auf ihren kastanienbraunen Flanken prangten immer noch die Streifen aus getrocknetem Schlamm, als Zeichen der Trauer um ihr kleines Fohlen, das vor nicht allzu langer Zeit von einem Adler gerissen worden war.

      Durch Selelas Worte angespornt, boten weitere Pegasus ihre Unterstützung an. »Ich werde ebenfalls nach ihm Ausschau halten«, sagte Baros. »Du hast recht, Aquilla. Wir können ein Mitglied unserer Herde nicht einfach im Stich lassen.«

      Aquilla wurde ganz warm ums Herz. »Danke«, antwortete sie mit belegter Stimme. »Ich denke … es wäre am besten, wenn ihr hier in den Bergen nach ihm sucht. Ich fliege nach Coropolis.«

      Odelia schlug mit dem Schweif. »Das ist viel zu gefährlich!«, warnte sie. »Du kannst nicht dorthin zurück.«

      »Als ich versucht habe, Jaren aus dem Gefängnis zu befreien, bin ich einem Mann begegnet, der mich für Aquoro gehalten hat«, erklärte Aquilla. »Er hat ihn eindeutig gesehen, denn er hat mir erzählt, dass Aquoro verschleppt worden ist. Und zwar von einem … Minotaurus.«

      Ein überraschtes Raunen ging durch die Herde. Kein Wunder: Die Minotauren waren vor Hunderten von Jahren ausgestorben.

      »Kann sein, dass der Mann den Verstand verloren hat«, räumte Aquilla ein, »und ich weiß, dass es ziemlich unwahrscheinlich klingt. Der Mann … ist inzwischen tot.« Sie blinzelte, als die Erinnerung, wie sein ausgemergelter Körper, von Zentaurenpfeilen durchbohrt, von ihrem Rücken fiel, wieder in ihr hochkam. »Aber vielleicht steckte in seinen Worten ja ein Körnchen Wahrheit.«

      »Ich finde, dem sollten wir auf jeden Fall nachgehen«, meinte Jaren.

      Aquilla sah ihn ungläubig an. »Du kommst mit?«

      Er nickte. »Na klar. Was dachtest du denn?«

      »Aber Jaren, du wurdest dort ins Gefängnis gesteckt. Was, wenn sie dich wiedererkennen?«

      »Und ein riesiger Pegasus, der über ihren Köpfen herumflattert, wird ihnen nicht weiter auffallen, oder was?«, entgegnete er. Er schauderte. »Bei diesem Wind kriege ich fast schon Heimweh nach meiner Zelle. Da war es wenigstens warm.«

      Aquilla prustete ihm zärtlich ins Haar. Mit Jaren an ihrer Seite erschien ihr Vorhaben mit einem Mal nicht mehr ganz so beängstigend.

      »Mögen die Sterne über eure Reise wachen«, ertönte eine tiefe Stimme. Rostro war dazugekommen. Er nickte erst Aquilla und dann Jaren zu.

      »Ihr solltet besser gleich aufbrechen«, riet Odelia nüchtern. »Nachts seid ihr schwerer zu entdecken.«

      »Danke«, sagte Aquilla zu ihrer Herde. Mehr brachte sie nicht heraus, denn in ihrem Hals steckte plötzlich ein dicker Kloß. Aber bestimmt wussten die anderen, dass sie es aus ganzem Herzen meinte.

      Jaren hielt sich an ihrer Mähne fest und schwang sich wieder auf ihren Rücken. Inzwischen fühlte sich das vollkommen natürlich an, als müsste es einfach so sein. Sie waren ein Team.