Man kann durchaus sagen, dass mein neuer Tagesrhythmus meine Umgebung beunruhigte. Missbilligend beobachtete meine Frau, wie ich immer länger schlief. Zunächst waren alle voller Verständnis für den kleinen Durchhänger und rieten mir, mich zu erholen, »Abstand zu nehmen«. Sylvie machte mir sogar eine heiße Zitrone, so eine Fürsorge hatte es seit den ersten Jahren unserer Ehe nicht mehr gegeben. Ungefähr nach der dritten Woche wurde es suspekt. Dass sich François Heurtevent, führender Kopf seiner Partei und ehemaliger Bürgermeister einer Stadt mit mehr als zweiundsechzigtausend Einwohnern, wie sein Kater benahm, war auf die Dauer offenbar schwer hinnehmbar.
Eines Morgens klingelte das Telefon auf dem Nachttisch. Schlaftrunken nahm ich den Hörer ab und knurrte ein »Hallo«.
»Heurtevent?«
»Am Apparat.«
Veillergant, PR-Chef meiner Partei, klang aufgeregt. Der Parteivorstand plane ein großes Meeting mit dem Vorsitzenden in Paris, auf dem Messegelände an der Porte de Versailles. Neben den Gewinnern seien auch alle Bürgermeister eingeladen, die die Wahlen verloren hätten. Man wolle die Reihen wieder schließen, sich um die Führung scharen und eine klare Linie für die Zukunft festlegen. Meine Teilnahme sei unerlässlich. Er wiederholte das letzte Wort und ergänzte es um Schlagwörter wie Strategie, Zweck, Ziel und Kampf.
»Wir müssen uns aufraffen!«, schloss er.
Aufraffen? Ich schlug das Wort im Wörterbuch nach: »aufraffen (V., refl.) sich – mühsam, mit Überwindung aufstehen, sich erheben; sich zusammennehmen, sich zusammenreißen, mühsam Haltung annehmen.«
Genau darüber stand: »aufquellen: (V., i. 192; ist) quellen, durch Aufnahme von Flüssigkeit anschwellen.«
In der Politik sind die Höhen sehr hoch und die Tiefen sehr tief.« Dieser Satz von André Dercours, an dessen Seite ich fünfundzwanzig Jahre zuvor meine Karriere begonnen hatte, ging mir oft durch den Kopf. Bisher hatte ich nur die Höhen kennengelernt. Die Tiefen sollten sich tatsächlich als sehr tief erweisen, dennoch würde ich in diesen tiefen Wassern, dort, wo selbst Fische nicht mehr wie Fische aussehen, für einen Augenblick das Licht finden.
André Dercours, genannt »Derk«, war Abgeordneter und Bürgermeister, Senator, kurzzeitig Minister, dann wieder Abgeordneter, Senator, und noch einmal kurzzeitig Minister gewesen. Eine Persönlichkeit des politischen Lebens der siebziger und achtziger Jahre, ein alter Fuchs, kahl wie eine Billardkugel und schlau wie ein Affe. Ich habe mich oft gefragt, was aus mir geworden wäre, wenn ich ihn nicht getroffen hätte. Wahrscheinlich gar nichts, jedenfalls nicht der, der ich bin. Männer wie André Dercours wird es nie mehr geben. Ich lernte ihn über meinen Vater kennen, der sein Zahnarzt war. Zwischen Karies und Füllungen entwickelte sich eine Art Freundschaft zwischen den beiden. Unsere Geschäftsbeziehung, wie Derk es nannte, begann im Jahr nach meiner Anwaltsprüfung. Ich hatte ohne Begeisterung Jura studiert. Im Gegensatz zu meinen Kommilitonen hatte ich keinen Ehrgeiz. Die Sache der anderen, die Sache des Volkes begeisterte mich nicht, ich wollte lieber meine eigene vertreten, und dabei half mir niemand.
»Deine Mutter hat erzählt, dass dir der Anwaltsberuf nicht gefällt«, sagte André Dercours eines Tages zu mir. »Das ist dein gutes Recht. Aber Spaß beiseite, das Leben hat dir weder eine Künstlerseele noch den Verstand eines Wissenschaftlers geschenkt, mein Junge, deswegen habe ich eine einfache Frage: Reizt dich die Politik? Anders gesagt, möchtest du für mich arbeiten?«
Ich glaube, dass es ihm mit seinen siebzig Jahren sehr gefiel, einen dreiundzwanzigjährigen Sekretär zu haben. Der Begriff »Assistent« war damals noch nicht üblich. Ohnehin hätte Derk ihn nicht verstanden. Er hätte für ihn einen unangenehmen Beiklang gehabt. »Ich brauch doch keinen Krankenpfleger« hätte er gesagt und dabei auf seinem Gebiss herumgekaut. Ein unerträglicher Tick, den er in den letzten Jahren entwickelt hatte, wobei er so weit ging, das corpus delicti auf seinen Schreibtisch zu legen und sogar Gäste zu empfangen, während seine Zähne gut sichtbar in der Stifteschale lagen. Der Gast hielt das Schweigen des Meisters für gründliches Nachdenken, bis sein Blick auf das Gebiss fiel, woraus er schloss, dass das Fehlen von Worten nicht undurchdringlichen Gedanken, sondern dem temporären Verzicht auf Schneide- und Backenzähne geschuldet war. Ich musste allerdings feststellen, dass Politiker eine sehr begrenzte Beobachtungsgabe haben, nur wenige entdeckten das Gebiss auf dem Schreibtisch. Jacques Chirac allerdings fiel nicht darauf rein. Wenn er uns besuchte, ließ er sich immer schwungvoll auf den Louis-XV-Stuhl fallen, um sich dann mit dem Problem konfrontiert zu sehen, wo er seine Beine unterbringen sollte, die eher zu einem amerikanischen Schauspieler der fünfziger Jahre passten. Wenn die Beine irgendwie verstaut waren, rief er: »Setz deinen Kiefer ein, bevor ich mit dir spreche, sonst verstehe ich dich nicht, alte Tarantel!«
Damals mochte ich Chirac. Viele von uns mochten ihn, links wie rechts hatte er ein überraschendes Kapital an Sympathie. Nur die Franzosen mochten ihn nicht. Als er 1988 von Mitterrand mit vierundfünfzig Prozent geschlagen wurde, war das eine schallende Ohrfeige. Derk, der sich sein Leben lang zwischen links und rechts durchgeschlängelt und wie ein Wetterhahn im Wind gedreht hatte, sagte ihm seine baldige Wahl voraus: »Du wirst sehen, du schaffst es noch. Wahrscheinlich beim nächsten Mal. Du schaffst es, du bist wie das niedliche Mädchen, das man ganz nett findet, aber mit dem man nicht unbedingt die Nacht verbringen möchte. Irgendwann kommt ein Abend, wo man sich einsam fühlt, man bumst mit ihr, und es ist eine Offenbarung. Du wirst die Offenbarung für Frankreich, sobald es Lust hat, mit dir zu bumsen. Auf die Nacht musst du geduldig warten.«
»Was redest du für einen Unsinn! Ich glaube, es ist mir doch lieber, wenn deine Zähne in der Stiftschale liegen«, war die Antwort des künftigen Präsidenten der fünften Republik.
Aber Derk behielt recht.
Besuche von Mitterrand waren hingegen echt verwirrend. Die beiden sprachen nie über Politik, nur über alte Bücher, die sie einander mit der Koketterie von Pornoautoren zeigten. Ich brachte ihnen den Kaffee. »François, mein Sekretär«, sagte Derk und wies auf mich. »Bonjour, Namensvetter«, begrüßte mich Mitterrand mit der kleinen Grimasse, für deren Imitation Thierry Le Luron berühmt war. Manchmal sah ich zu, wie sie sich ihre Bücher zeigten, wie Kinder ihre Spielsachen. Alte Kinder, sehr alte Kinder. In solchen Momenten packte mich der Schwindel: Was tat ich da mit diesen Greisen aus einer anderen Zeit, die sich dank einem Pakt, den auch Faust nicht abgelehnt hätte, an die Macht klammerten? Wenn ich so weitermachte, würde sich nie etwas ändern, sie würden völlig senil werden, und ich würde immer da sein, um ihnen den Kaffee zu servieren. Beängstigend.
Der eine hatte ein Dossier über jeden, der in Paris Rang und Namen hatte, der andere herrschte über die Atomwaffen. Und dann schwatzten sie über alte, ledergebundene Ausgaben, und ich machte den Kaffee mit gutem Évian in einer Kupfermaschine aus Zeiten Daladiers. Internet, Mobiltelefon und Plasmabildschirme waren im Kommen, aber die Regierenden lebten in einer anderen Welt, der versunkenen Welt der Menschen von früher, die mit dem Ende des 20. Jahrhunderts endgültig verschwinden würde.
Ich ließ sie über ihre Sammlerstücke plaudern und sah aus dem Fenster auf die getarnten Autos der Leibwächter des Präsidenten. Die Personenschützer mit ihren Ohrstöpseln und dem toten Blick hinter dunklen Brillen überwachten die Straße in aller Diskretion. Es war wie ein Ballett, nichts entging ihnen, weder die Frau mit dem Kinderwagen noch der Mann mit dem Baguette, das Paar, das die Straße überquerte, oder der junge Mann mit Inlineskatern. Auch ich nicht, hinter den Fensterscheiben von Derks Büro. Einer der Leibwächter sah zu