Ich blinzele mehrmals, weil ich nicht glauben kann, was gerade geschieht. Als ich die Augen das nächste Mal öffne, ist das Rot verschwunden. Einfach weg. Mit klopfendem Herzen starre ich den Ring an. Das Ganze hat nur Sekunden gedauert. Doch ich bin mir zu tausend Prozent sicher, dass ich es mir nicht eingebildet habe. So viel Fantasie besitze ich eindeutig nicht. Schnell streife ich ihn vom Finger. Tatsächlich ist in meiner Haut eine winzige Einstichstelle zu sehen. Was hat das alles zu bedeuten? Evelyn ist die Einzige, die mir darauf eine Antwort geben kann.
Aufgewühlt trete ich aus dem Badezimmer. Mum sitzt im Sessel und wirkt nachdenklich.
„Ich muss noch einmal zu Evelyn“, komme ich gleich auf den Punkt.
„Wieso das?“
Ich halte den Ring hoch. „Deshalb. Er ist … es war merkwürdig, ich glaube, keine Ahnung, irgendetwas ist mit dem Ring.“
„Wovon redest du?“, fragt Mum gereizt. „Wann hat Evelyn ihn dir gegeben? Warum weiß ich nichts davon?“
„Das ist doch ganz egal. Sie hatte ihre Gründe, da bin ich mir sicher. Ich muss wissen, ob es eine logische Erklärung gibt.“
„Sie hat dich mit ihrem Gerede ja völlig durcheinander gebracht.“
„Ist das ein Ja oder Nein?“
„Es ist schon spät. Wir verschieben es auf morgen.“
„Dann lass mich sie anrufen.“
Mum verdreht seufzend die Augen, gibt mir aber ihr Handy, nachdem sie die Nummer rausgesucht hat. Ich lasse es dutzende Male klingeln.
„Sie hebt nicht ab.“
„Sicher schläft sie längst. Es war ein langer Tag.“
Frustriert gebe ich mich geschlagen und mache mich bettfertig. An Schlaf ist jedoch nicht zu denken. Im Dunkeln greife ich nach dem Ring, der auf dem Nachttisch neben dem Bett liegt. Erneut spüre ich das Kribbeln. Fasziniert und erschrocken zugleich gebe ich mich dem Gefühl hin. Ich schließe die Augen und fast ist mir, als würde ein leichter Wind meine Haut streicheln.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück gebe ich keine Ruhe, bis wir zu Evelyns Haus aufbrechen. Mum zeigt offen ihren Unmut. Weil ich ihr aber unmissverständlich zu verstehen gegeben habe, dass ich mich sonst allein auf den Weg mache, tut sie mir den Gefallen.
Der Wind hat nachgelassen, dafür schneit es unermüdlich. Schon nach kurzer Zeit sind unsere Fußspuren, die wir im Schnee hinterlassen, nicht mehr zu sehen. Trotz der Handschuhe sind meine Finger kalt, als ich auf den Klingelknopf drücke. Schweigend warten wir. Ich versuche es ein weiteres Mal, doch die Tür bleibt verschlossen.
„Ist das nicht seltsam?“
„Deine Großmutter ist mit neunundsechzig durchaus noch in der Lage, das Haus zu verlassen. Wahrscheinlich hat sie irgendwelche Termine.“
„Aber erst geht sie nicht ans Telefon und jetzt ist sie nicht zu Hause?“
Mum sieht auf die Uhr. „Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, wenn wir die Stadtrundfahrt noch machen wollen.“
„Dann bleiben wir einen Tag länger.“ Ich reibe die behandschuhten Hände aneinander.
„Sei nicht albern. Der Flug ist gebucht und du wusstest, dass du wieder zur Schule musst. Das hier ist schließlich keine Urlaubsreise.“
Ich weiß, sie hat recht. Wegen der Beerdigung und der damit verbundenen langen Flugzeit wurde ich für zwei Tage vom Unterricht befreit. Trotzdem wehrt sich alles in mir gegen eine Rückkehr nach Hause.
„Aber der Ring …“
„Wirf ihn ihr in den Briefkasten.“
„Was?“
„Na los, keine Widerrede.“
„Aber…“
„Greta, ich sagte …“
„Ist ja schon gut.“ Meine Finger umschließen den Ring. Dann greife ich nach der Münze, die sich ebenfalls in meiner Jackentasche befindet und lasse sie schnell im Schlitz des Briefkastens verschwinden. „Zufrieden?“
„Es ist besser so, glaub mir.“
Der Anflug eines schlechten Gewissens streift mein Bewusstsein. Gedanklich entschuldige ich mich bei Mum, dann schiebt sich Entschlossenheit an die Oberfläche. Am Ende spielt es keine Rolle, wo auf der Welt ich mich befinde. Ich werde herausfinden, ob der Ring eine bloße Spielerei ist oder ob mehr dahintersteckt.
2
Ich fühle die Aufregung, das Adrenalin, wie es durch meine Blutbahn rast. Vor vier Stunden ist unser Flieger in Berlin gelandet. Gleich nach der Ankunft habe ich Lara, meiner besten Freundin, eine Nachricht geschickt. Nach der Schule erwartet sie mich. Ich muss ihr dringend von dem Ring erzählen.
Als sie mich entdeckt, springt sie mir freudig in die Arme.
„Schön, dich wieder bei mir zu haben.“
„Ich bin auch froh, wieder hier zu sein.“
„Wie war es in New York? Also bis auf die Beerdigung, meine ich.“
„Du hast ja keine Ahnung.“
Sie hakt sich bei mir unter. „Dann schlage ich vor, wir ändern das schnellstens.“
Ob Lara weiß, wie viel mir ihre Freundschaft und ihre bedingungslose Loyalität bedeuten? Ich bin mir sicher, dass sie mir glauben wird, auch wenn ich zugeben muss, dass meine Geschichte absolut verrückt klingt. Ich würde Lara alles anvertrauen, dabei kenne ich sie erst seit einem Jahr. Damals stand sie plötzlich mit ihrem blonden Bob, den sie inzwischen knallrot gefärbt hat, und der riesigen Nerdbrille in der Tür zu unserem Klassenraum.
„Ich bin ganz Ohr.“
Gemeinsam mit Lara sitze ich an unserem Lieblingsplatz. Es ist ein altes, stillgelegtes Parkhaus. Vor zwei Jahren wurde es dichtgemacht, um nicht weit entfernt ein größeres und moderneres zu bauen. Statt es abzureißen und ein paar Bäume zu pflanzen, ließ man es einfach stehen. Doch nach und nach nimmt sich die Natur, was ihr gehört. Efeu und andere Rankgewächse, hauptsächlich Unkraut, haben bereits einen Großteil der Außenfassade zurückerobert. Wilder Wein schlängelt sich daran empor. Auch zwischen schmalen und breiten Rissen wuchert im Frühjahr und Sommer eine Unzahl an Pflanzen. Mitten in einer Stadt voller Hektik und Schnelllebigkeit strahlt dieser Ort eine gewisse Ruhe aus. Nicht immer, denn inzwischen dient das Parkhaus dazu, illegale Autorennen oder Partys stattfinden zu lassen. Aber unter der Woche ist hier kaum was los, Lara und ich können ungestört über alles reden. Lediglich den ein oder anderen Sprayer oder auch mal ein knutschendes Pärchen verschlägt es hierher.
Lara und mich zieht es meistens auf die oberste Ebene. Dort, auf dem Dach des Häuschens, in dem sich die Fahrstuhlschächte befinden, lassen wir unsere Tage Revue passieren. Im Sommer, wenn die Hitze sich in den Straßen staut und hier oben ein laues Lüftchen weht. Im Frühling, wenn die Sonne den Beton unter uns wärmt. In der Dunkelheit, wenn die Sterne zum Greifen nah sind und die Stadt nur an diesem Ort zu schlafen scheint. Und wie jetzt, im Winter. Wenn das, was wir uns zu erzählen haben, niemand anders hören soll.
Mit den Beinen baumele ich über dem Dachvorsprung und suche nach Worten. Plötzlich fällt es mir schwer zu beginnen. Wie erkläre ich etwas, das ich selbst nicht verstehe? Das völlig verrückt klingt. So sehr mich das Übernatürliche in Filmen und Büchern begeistert, so wenig gehört es in die Realität. Je länger ich darüber nachdenke, desto alberner komme ich mir vor. Mit dem Daumen reibe ich über die Stelle an meinem Ringfinger, an der ich den winzigen Stich verspürt habe. Nichts ist mehr zu sehen. Natürlich nicht. Wäre ja auch zu einfach, wenigstens einen kleinen Beweis zu haben.
„Spann mich nicht auf die Folter. Erzähl endlich“, fordert Lara mich auf.
Ich seufze. Die Arme leicht ausgestreckt