Helle und der falsche Prophet. Judith Arendt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Judith Arendt
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783455009897
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gemäßigten Fleischkonsum propagierte. Ihr Sohn Leif liebte Männer, und durch ihn hatte Helle, die sich immer als aufgeklärt und liberal empfunden hatte, erst gelernt, was es hieß, wenn Menschen sich diskriminiert fühlten. Manchmal waren es kleine unbedachte Bemerkungen ihrerseits, die Leif verletzten. Sie konnte sich also sehr gut vorstellen, wie es in einem Haushalt herging, in dem die Tochter sich gegen Klimawandel engagierte und der Vater Manager in einem Energieunternehmen war. Sie wechselte deshalb das Thema.

      »Im Protokoll habe ich gelesen, dass Merle vielleicht gar nicht nach Hause fahren wollte, sondern zu einer Party?«

      »Inez«, Fredrick wies mit dem Kinn auf seine Frau, »hat etwas von einer Party gesagt. Sie war sich nicht sicher. Habt ihr etwas …?«

      »Ole hat mit den meisten Freunden gesprochen«, antwortete Helle. »Aber keiner wusste etwas von einer Party. Das heißt natürlich nicht, dass es keine gegeben hat. Aber vielleicht mit anderen Leuten, wir sind da dran.«

      »Die Stelle, wo man sie gefunden hat …«, tastete sich Inez vor.

      Helle nickte. »Ja, natürlich. Im Sommer ist da immer eine Menge los, nachts. Und manchmal feiern da auch Leute in der kalten Jahreszeit. Allerdings haben wir in näherer Umgebung keine Spuren von einem Fest gefunden. Flaschen, Feuerreste. Selbstverständlich suchen wir noch weiter.«

      »Ich weiß, das klingt naiv«, sagte Fredrick. »Aber Merle hat nicht viel Alkohol vertragen. Sie hat deshalb kaum getrunken. Also, diese 1,7 Promille … ich kann es mir nicht erklären.«

      »Das sagen wahrscheinlich alle Eltern von ihren Kindern.« Inez sah Helle an.

      »Ich weiß noch, als Leif zum ersten Mal vollkommen betrunken nach Hause kam«, erzählte Helle. »Er war vierzehn. Mein kleiner Junge. Und dann musste ich ihn vom Schulfest abholen, er hat gestunken wie eine Flasche Schnaps und die ganze Nacht über der Kloschüssel gehangen. Ich wollte es nicht glauben. Er war doch noch so klein.«

      Inez versuchte ein zerbrechliches Lächeln. Es gelang ihr nicht. »Wie geht es ihm? Merle hat erzählt, er ist in Aalborg?«

      Helle nickte. »Ja. Er macht eine Ausbildung. Veranstaltungstechnik. Also, ich höre nicht so oft von ihm.«

      »Sie hat Gras geraucht«, ließ sich Fredrick vernehmen und räusperte sich. »Sie meinte, das sei nicht so schlimm wie Alkohol. Na ja, ich war alles andere als begeistert.«

      »Verstehe. Ja, also, wir werden sehen …« Helle starrte auf ihr Wasserglas und wusste nicht weiter.

      Verdammte Sprachlosigkeit.

      »Sucht ihr nach ihren Sachen?«

      Helle blickte betreten zu Boden. »Ja, natürlich.« Sie wollte den beiden nicht sagen, dass sie kaum Leute zur Verfügung hatte. Einen richtigen Suchtrupp konnte sie nicht zusammenstellen, jedenfalls nicht, solange die Beweislage für ein Gewaltverbrechen so dünn war. Ayuna hatte die Suche heute nach Einbruch der Dunkelheit vorerst eingestellt. Wie sie morgen weitermachen wollten, stand noch zur Diskussion.

      »Ich würde mir jetzt gerne ihr Zimmer ansehen.«

      Inez nickte und stand auf.

      »Ich hole meinen Kollegen dazu, wenn das okay ist?«, fragte Helle mehr rhetorisch. Sie waren verpflichtet, Durchsuchungen immer zu zweit vorzunehmen.

      »Natürlich.«

      Merles Zimmer lag im ersten Stock des Hauses, eine Kerze stand im Fenster. Inez führte Helle und Ole hin, aber einige Schritte vor dem Zimmer blieb sie stehen.

      »Helle, ich …« Die Stimme versagte ihr und dann die Beine. Inez glitt einfach zu Boden und blieb, den Rücken an der Wand, sitzen.

      »Schon gut«, sagte Helle und hockte sich daneben. »Wir gehen allein.« Etwas lauter rief sie nach Fredrick, der sofort die Treppe hochkam. Ohne ein Wort zu sagen, fasste er seiner Frau unter die Arme, zog sie sanft hoch und half ihr die Treppe wieder hinunter.

      Ole hatte Helle stumm angesehen, eine Situation wie diese mussten sie in Skagen nicht alle Tage bewältigen, zum Glück.

      Sie streiften sich die Einmalhandschuhe über, machten Licht im Zimmer und sahen sich um.

      Bevor sie irgendetwas mit der Hand anfasste, versuchte Helle, sich den Eindruck, den das Zimmer auf sie machte, genau zu merken. Es war ein schönes Zimmer. Unaufgeräumt, aber freundlich. Viele Pflanzen, Sukkulenten und Kakteen, Lichterketten, an die Wand gepinnte Konzertkarten, Fotos – immer eine lachende Merle, mal mit, mal ohne Freunde – und überall Statements. Zum Thema Klimakrise, Tierwohl und Fleischkonsum, aber auch LGBTQ oder #MeToo. Nichts Auffälliges. Nichts, was Helle nicht aus den Zimmern ihrer eigenen Kinder kannte. Es war das Zimmer einer jungen Frau, die sich für bestimmte Themen interessierte, aber auch ein reges Sozialleben führte, die es gerne gemütlich hatte und Pflanzen liebte. Auf den ersten Blick offenbarten sich keine Abgründe. Helle begann mit der Durchsuchung.

      Eine halbe Stunde später waren sie fertig. Und hatten nichts gefunden, was sie stutzig gemacht hätte, das aus dem Rahmen fiel oder gar darauf hindeutete, dass Merle sich das Leben nehmen wollte. Es gab keine Tagebücher und keine Fotokisten, stattdessen nahmen sie den Laptop mit, vielleicht würden die Techniker in den sozialen Foren etwas finden.

      Sie verabschiedeten sich von Inez und Fredrick, und als die Haustür hinter ihnen ins Schloss fiel, holte Helle erst einmal tief Luft.

      »Du, hör mal«, sagte Ole, während er Helle durch die Dunkelheit nach Hause fuhr. »Warum hat sie das Board eigentlich jetzt abgeholt?«

      Helle sah zu ihm hinüber.

      »Ich meine, es ist Oktober«, fuhr er fort. »Da geht man nicht wellenreiten. Sie war mit Freunden auf der Demo und die Freunde sind nach Frederikshavn zurückgefahren.« Er schüttelte den Kopf.

      »Und anstatt mitzufahren, geht sie alleine zu ihrem Bruder, holt ein Board, das sie gar nicht brauchen kann und nimmt in Kauf, dass sie alleine nach Frederikshavn fahren muss – meinst du das?«

      »Ja.« Ole nickte. »Was sie dann aber gar nicht tut. Sie trampt. Findest du nicht, das sieht aus, als hätte sie einen Plan gehabt?«

      Helle schwieg. Sie sah zum Fenster hinaus. Schwarze Nacht. Dann und wann ein einzelnes Licht. Wollte man da draußen jetzt alleine unterwegs sein?

      »Ich weiß es nicht, Ole«, antwortete sie schließlich. »Ich weiß es wirklich nicht.«

      Das Haus der Jespers lag kalt und dunkel da. Helle ging einmal rundherum, um zu sehen, ob jemand versucht hatte, während ihres Urlaubs einzubrechen, aber es gab keinerlei Spuren im Sand.

      Helle sperrte auf und sog den vertrauten Geruch ein. Das Haus roch nach Jespers. Vor allem nach Emil Jespers. Und nach kaltem Kamin. Helle fröstelte. Sie musste Leben in die Bude bringen, und zwar schnell, sonst würde sie in ihrer traurigen Stimmung untergehen.

      Eine halbe Stunde später prasselte das Feuer im Kamin und wärmte den großen Raum mit den tiefen Sofas ordentlich auf. Helle hatte knallheiß geduscht, bis ihre Haut wie Krebsfleisch aussah, sich in den Einteiler aus Frottee gekuschelt, den ihre Kinder ihr vergangene Weihnachten geschenkt hatten, die obligatorischen zwei Paar Wollsocken übergestreift, eine Flasche Wein geöffnet und telefonierte mit Bengt, während auf dem Herd ein Topf mit Rehgulasch köchelte, das Helle aus der gut bestückten Tiefkühltruhe geholt hatte.

      »Wo seid ihr?«

      »Am Bodensee. In Lindau.«

      »Wie geht es ihm?«

      »Emil, wie geht es dir? Sag mal hallo zum Frauchen.«

      »Emil, mein Süßer! Kannst du mich hören? Emil? Dein Frauchen ist hier!«

      »…«

      »Er schläft.«

      Helle traten die Tränen in die Augen. »Es ist Mist ohne euch.«

      »Wir beeilen uns. Es ist nur …«

      »Was?«

      »Er