Der junge Löwensohn kämpft in Russland, in Serbien und schließlich in Frankreich. Er wird zweimal verwundet, genau wie der Gefreite Hitler. Letzterer bekommt das Eiserne Kreuz verliehen. 1916 bietet man Robert Löwensohn, der sich im Kampf ausgezeichnet hat, die Wahl zwischen einem Eisernen Kreuz und einem Offiziersgrad an. Beides zusammen sei allerdings zu viel für ihn, gibt man ihm zu verstehen. Für ihn? Für einen Juden, versteht er ganz richtig. Aber egal, er ist gehörig stolz darauf, Offizier in Kaiser Wilhelms Heer zu werden. 1917 befinden sich mein Urgroßvater und Adolf Hitler am selben Abschnitt der Westfront, im Artois, zwischen Vimy und Arras. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass sie sich dort begegnet sind, dass der Meldegänger Hitler, ständig unterwegs zwischen Regimentsstab und Bataillonsstäben, sich auch einmal beim Leutnant Löwensohn, dem Führer eines MG-Schützenkommandos, einstellte. In Mein Kampf, wo er diesen Krieg zur prägenden Zeit seiner Ideologie erklärt, schreibt er trotzdem, er sei von der Feigheit der Juden befremdet gewesen und »staunte über die Fülle von Kämpfern des auserwählten Volkes« (1/203), die er in den Schreibstuben im Hinterland vorgefunden habe: »Die Spinne begann, dem Volke langsam das Blut aus den Poren zu saugen« (1/203), wo doch selbst zu seinem eigenen Regiment zahlreiche Juden gehörten, angefangen mit dem Offizier, dem er sein Eisernes Kreuz verdankte.
Beide, Hitler und mein Urgroßvater, erleben die Niederlage als schwere Kränkung, beide verurteilen die Unruhen, die sie im Land auslöst. In München beteiligt sich Leutnant Löwensohn ohne Bedenken an der bewaffneten Niederschlagung des Aufstands der Räte im April 1919. Viele Anführer dieser subversiven kommunistischen Bewegung sind Juden, was den Hass der nationalistischen Rechten schürt. Mein Urgroßvater bekämpft also den Aufruhr an der Spitze seiner Leute, während Hitler vorsichtshalber alles Weitere in seiner Kaserne abwartet. Doch kaum sind die Räte besiegt, wird er zu einem Aufklärungskursus für »staatsbürgerliches Denken« kommandiert, um antikommunistische und damit zwangsläufig antisemitische Propaganda in seinem Regiment zu betreiben. Und da entpuppt er sich als politisches Talent … Fünf Monate später tritt er in die DAP, die Deutsche Arbeiterpartei ein; vier Jahre später, in Landsberg, beginnt er mit der Abfassung von Mein Kampf. Im selben Jahr, in einer anderen bayerischen Stadt, wird Robert Löwensohn, der wieder im familieneigenen Kinderbuchverlag arbeitet, Vater einer kleinen Tochter, meiner Großmutter Annemarie.
Die politischen Ereignisse beschäftigen ihn kaum. Meine Großmutter erinnert sich, dass er nie über Politik gesprochen hat, sich aber unermüdlich über seinen Weltkrieg auslassen konnte, voller Stolz auf seinen Rang als deutscher Offizier, als der Herr Leutnant, der für sein Vaterland gekämpft hatte.
Dann kommt das Jahr 1933, und noch begreift er nicht, dass die Machtübernahme seines Kameraden vom Artois eine tödliche Bedrohung für ihn und seine Familie bedeutet. Wie viele ihrer Glaubensgenossen meinen die Löwensohns, die Nazis würden sich auf Diskriminierungen beschränken, und eines Tages werde alles zur Normalität zurückkehren. Schlägt Hitler nicht schon moderatere Töne an, seit er Reichskanzler geworden ist? So ein 20 Jahre früher geschriebener Text zeuge doch eher von der Wahnhaftigkeit seiner antisemitischen Obsession, seiner Weltanschauung, in der die Auslöschung der Juden und der Krieg eine zentrale Rolle spielten. Mein Kampf? Weder Robert Löwensohn noch irgendwer in seiner Umgebung hat das Buch gelesen. »Wir fanden es zu vulgär«, erzählt mir meine Großmutter. »Wir hielten uns nicht für betroffen, wir als deutsche Bürger und Patrioten.« Sie erinnert sich, dass nur die Dienstmädchen die Hetzreden des Führers im Radio hörten. Eine von ihnen sollte übrigens meine Großmutter, Leutnant Löwensohns Tochter, darüber aufklären, was ihr mit zehn Jahren höchstens undeutlich bewusst gewesen war: Sie ist Jüdin, ihre Familie ist jüdisch.
1938, allzu spät, macht sich Robert Löwensohn mit seinen Angehörigen schließlich auf nach Paris. Als die Deutschen in Frankreich einmarschieren, bringt er seine Tochter in Sicherheit, denkt aber nicht daran, sich selbst zu verstecken. Was hat er schon vonseiten der Deutschen zu befürchten, er, der Leutnant des Königlich Bayerischen 11. Infanterie-Regiments? Auf jeden Fall trennt er sich nicht von seinem Militärpass. 1940 wird dem Veteranen trotzdem, per Verordnung, die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt. Erst 1942 begreift er, in welcher Gefahr er schwebt, bereitet noch die Flucht in den Süden vor, wird aber bei einer großangelegten Razzia festgenommen. Er weist darauf hin, wer er ist, was ihm nur einen kurzen Aufschub verschafft, bevor er nach Auschwitz deportiert wird, seinen kostbaren Armeepass im Gepäck. Dort hält er noch drei Jahre durch und kommt schließlich auf den Todesmärschen im Januar 1945 um.
Zweifellos hat er bis zuletzt nicht recht verstanden, warum der Gefreite Adolf Hitler, der Meldegänger vom Artois, ihn aus Deutschland verjagt und seiner Staatsbürgerschaft beraubt hatte, um ihn schließlich zu ermorden. Er hatte Mein Kampf nicht gelesen. Und wenn er das Buch gelesen hätte, hätte er seine tiefe Bedeutung verstanden? Hätte das etwas an seinem Schicksal geändert? Diese Fragen bleiben unbeantwortet, aber sie verdienen es, gestellt zu werden.
Die Zeit vor dem Krieg Die »Nazi-Bibel«
I Die Entstehung eines Buches
Die Ursprünge von Mein Kampf
Münchens historische Altstadt ist im Zweiten Weltkrieg durch Luftangriffe zwar weitgehend zerstört, aber in den Folgejahren größtenteils originalgetreu wiederaufgebaut worden, so auch das Hofbräuhaus am Platzl. Die bereits im 16. Jahrhundert gegründete Brauerei, Ende des 19. Jahrhunderts zum Gasthaus umfunktioniert, beim Bombardement Münchens 1945 schwer getroffen, wurde penibel rekonstruiert. So erscheinen Name und Fassade wie in den 1920er Jahren, als zahlreiche Gruppen und Vereinigungen, von denen es in der brodelnden Weimarer Republik nur so wimmelte, dort ihre politischen Versammlungen abhielten. Die Dekoration im Saal ist typisch bayerisch. Auf beiden Seiten lange Tische, Gäste in traditionell bayerischer Tracht mit Gamsbarthüten, dazwischen Touristen. Bierkrüge balancierend, bahnen sich die Kellner ihren Weg, untermalt von lauten Stimmen und schallendem Gelächter. Kaum zu glauben, dass in dieser Bierhalle Hitler zu Hitler wurde und dass in dieser Bierhalle auch Mein Kampf seinen Ursprung hat.
Herbst 1919. Aus dem Heeresdienst entlassen, ohne Habe, ohne Familie und ohne Arbeit, schleppt der Gefreite Adolf Hitler seine Misere durch Münchens Straßen, von der Kneipe zum Bierkeller. Eigentlich sehnt er sich nach dem Krieg und den Schützengräben zurück. Dem gescheiterten Kunstmaler, dem heruntergekommenen Außenseiter, der vergebens versucht, seinem Leben einen Sinn zu geben, hat der Erste Weltkrieg eine erhebende Erfahrung geboten: »[…] die unvergeßlichste und größte Zeit meines irdischen Lebens« (1/172), wie er in Mein Kampf schreibt. Der Krieg hat den Österreicher Hitler von dem schweren, giftigen Elixier namens Nationalismus kosten lassen und so einen glühenden Verteidiger der deutschen Nation aus ihm gemacht. Um sich in diesem Sinne weiterhin betätigen zu können, bietet der ehemalige Gefreite seine Dienste der militärischen Abwehr in München an. »Er glich einem müden, streunenden Hund, der nach einem Herrn suchte«, wird Jahre später Hauptmann Karl Mayr[3] erzählen, der ihm den Auftrag erteilt, die ultranationalistische Szene zu beobachten. Die Reichswehr will wissen, was sich da zusammenbraut, auch um diese neuen Gruppierungen eventuell nutzen zu können.
Und so macht Hitler 1919 Bekanntschaft mit der DAP, der Deutschen Arbeiterpartei: eine neu gegründete rechtsradikale Gruppe, deren Ruf kaum über die Stadtgrenzen hinausreicht; eine von zahllosen Splittergruppen, die für extremen Rassismus und