Seit ich im Operationssaal arbeitete, achtete ich mehr auf die Augen meiner Kolleginnen und Kollegen. Ich glaubte, mittlerweile einiges daraus lesen zu können.
Die Patientin war tief narkotisiert und alles lief planmäßig. Selbst der Ärger der Chirurgen über die Verspätung war verflogen, denn sobald sie operierten, waren sie in ihrem Element und rundum zufrieden.
Noch immer stand Anita neben mir. Sie fixierte weder die Patientin noch die Narkosegeräte. Ihr Blick war, wie ich deutlich spürte, auf mich gerichtet und ich wandte mich ihr zu. Sie lächelte. Machte sie mir schöne Augen?
„Du rufst mich, wenn du Hilfe brauchst, ich muss weiter“, sagte sie und verließ den Saal. Ich schaute ihr nach und verwarf meine Idee augenblicklich wieder. Stattdessen beschäftigte ich mich mit den blauen Augen der Patientin und kontrollierte, ob sie fachgerecht geschlossen und gesalbt waren.
Die Operation kam nur schleppend voran, und meine Narkose war ereignisarm oder schlicht langweilig. Nach einer Weile kam Anita wieder in den Saal und fragte, ob ich etwas bräuchte. Ich verneinte, trotzdem setzte sie sich zu mir. Anfangs hatte es mich irritiert, dass Chirurgen und Anästhesisten während einer OP nur von Dingen sprachen, die nichts mit der Arbeit zu tun hatten. Inzwischen machte ich es ebenso.
„Du hast dich schon ganz gut eingearbeitet“, sagte Anita sehr leise, „gefällt es dir bei uns?“
Die Antwort fiel mir schwer.
„Für die Anästhesie konnte ich mich bisher noch nicht recht erwärmen. Natürlich hat es sehr spannende Aspekte. Es ist absolut faszinierend, einen Menschen von einem Moment zum andern vom Wachzustand in einen tiefen Schlaf zu versetzen.“
„Ja, das finde ich auch“, meinte Anita, „wobei Narkose mehr ist als Schlaf. Der Patient ist nicht mehr aufzuwecken, er ist narkotisiert, tiefer als im Schlaf und ohne Selbstkontrolle, und mir gefällt die Aufgabe, die schutzlosen Narkotisierten während dieser Zeit zu betreuen.“
„Sicher. Unsere Arbeit ist sehr verantwortungsvoll. Die Narkose ist ein Zustand in der Nähe des Todes.“
„Man sagt, der Schlaf sei der kleine Bruder des Todes“, meinte Anita, indem sie etwas näher zu mir rückte.
Ich nickte.
„Doch was ist die Narkose?“ Anita machte große Augen.
„Die Narkose ist seine große Schwester“, antwortete ich.
„Siehst du“, meinte Anita und nickte anerkennend, „das ist doch alles sehr aufregend.“
„Das trifft für Anfang und Ende der Narkose zu. Aber dazwischen passiert meistens nicht viel, und das finde ich eben nicht so spannend.“
„Das macht doch nichts“, entgegnete Anita, „es tut uns auch gut, wenn wir uns mal etwas erholen können. Vielleicht gibt es darum auch so viele Witze über Narkoseärzte, die bei ihrer Arbeit einschlafen. Doch diese Witze stammen meist von den Chirurgen!“ Anita bemerkte dies etwas lauter und provokativ in Richtung der Operierenden, die nicht reagierten.
„Falls während der Narkose nichts passiert, kannst du zuschauen, was die Chirurgen so machen. Zugegeben, eine Varizenoperation ist kein Höhenflug der Chirurgie“, fügte Anita bedeutend leiser an.
Trotzdem schienen die Chirurgen diese Bemerkung gehört zu haben.
„Dir werde ich jetzt gleich zu einem Höhenflug verhelfen“, antwortete der eine Chirurgie-Assistenzarzt.
„Mit einem Flug lässt sich unsere Arbeit durchaus vergleichen“, nahm ich das Thema auf, „unser Passagier heißt Patient und geht hoffentlich nicht in die Luft, sondern taucht in einen tiefen Schlaf ab.“
„Dieser Vergleich gefällt mir. Am liebsten würde ich jetzt auch gleich losfliegen. Fliegst du mit mir weg? Wohin geht die Reise?“, fragte die etwas sprunghafte Anita.
„Vielleicht in die Karibik oder nach Australien?“
„Das ist gut, sehr gut, also nichts wie hin!“, rief Anita und lachte erfrischend.
„Ich glaube, wir haben noch keine Starterlaubnis“, antwortete ich.
„Daran wird es wohl scheitern. Verschieben wir unseren Traum erst mal.“
Anita wollte den Operationssaal verlassen, drehte sich dann aber nochmals um.
„Einer der Unterschiede zwischen Narkose und Flug besteht aber darin, dass die Piloten stets zu zweit sind, während sich dein Oberarzt oft nicht im Cockpit befindet“, meinte sie.
„Er ist eben meistens im Tower“, versetzte ich.
„Gute Umschreibung für das Kaffeeräumchen. Da musst du nachher unbedingt auch hin und den feinen Kuchen versuchen. Der ist so groß, da kann auch Huber mit bestem Appetit noch nicht alles aufgegessen haben“, fügte sie schelmisch hinzu.
Ich mochte Anita wegen ihres Humors, wenn er zuweilen auch etwas kindlich wirkte. Sie war allgemein beliebt und verbreitete gute Laune. So passte sie perfekt in die grüne Welt. Anästhesie war ihr Ding.
Schmunzelnd schaute ich ihr nach. Lebhaft wie ihr Wesen war auch ihr Gang. Bei jedem Schritt wippte ihr pummeliger, etwas kleingewachsener Körper mit, und die auffallend schwarz gelockten Haare schimmerten unübersehbar durch das Häubchen.
Die Operation wurde fast zum Alptraum, denn das Arbeitstempo lag im Zeitlupenbereich. Da wurde mir klar, dass an den Gerüchten über diesen Chirurgen doch etwas dran sein musste. Es hieß, er sei der Langsamste und nichts laufe bei ihm, außer Schweiß und Mundwerk.
Die Klapptüre zum OPS öffnete sich wieder hörbar, und Anita kehrte zurück in den Saal. Sie selbst, mit starken Beinen ohne Krampfadern, kam aber nicht, um mir eine Zwischenverpflegung zu servieren, sondern um mich bei der Narkoseausleitung zu unterstützen.
„Es gibt noch genügend Kuchen. Konzentrier dich aber trotzdem, und mach mir keine Bruchlandung“, raunte sie mir zu und richtete sich bequem auf einem Hocker ein.
„Müsst ihr andauernd tratschen?“, hallte es harsch von der Chirurgenseite her. „Ihr fliegt nächstens, und zwar aus dem Saal raus.“
„Ich glaube, jetzt passiert doch noch etwas. Wir haben plötzlich mit unerwarteten Turbulenzen zu rechnen“, meinte ich zu Anita.
„Wir werden unseren Funkverkehr auf das Nötigste beschränken“, beruhigte Anita mich und unterdrückte ein Lachen.
Nach sagenhaften zweieinhalb Stunden war diese Operation zu Ende. Wir schafften eine Punktlandung, denn kaum hatten die Chirurgen die Beine fertig eingebunden, erwachte die Patientin. Dies schien kaum jemand zur Kenntnis zu nehmen.
Doch ich war froh, denn nun hatte ich eine Pause bis zur nächsten Operation. Erleichtert warf ich meinen Mundschutz fort und betrat zusammen mit Anita den Kaffeeraum um die Ecke. Ich freute mich auf eine kleine Stärkung. Als Erstes fiel mein Blick auf Oberarzt Huber, der sich genüsslich den Mund abwischte. Ich kannte seine Schwäche für Süßigkeiten.
Huber schaute mich durch runde Brillengläser eindringlich an.
„Na, seid ihr auch noch fertig geworden? Du musst übrigens unbedingt von diesem feinen Kuchen versuchen!“
Seine Stimme klang plötzlich ebenso süß, wie der angesprochene Kuchen schmeckte. Das war typisch für ihn. Manchmal war er überfreundlich, und bei der nächsten Begegnung mürrisch, herablassend und abschätzig kühl. Dementsprechend war seine Stimme mal honigsüß, mal sauer wie Zitrone. Dieses Verhalten hatte sich seit der Beförderung zum Oberarzt vor drei Wochen eindeutig verstärkt. Die neue Position hatte sein Selbstwertgefühl offensichtlich überproportional gestärkt. Noch mehr aber genoss er das Privileg, die Narkosen nicht mehr selbst einleiten zu müssen, sondern sie nur noch zu überwachen. Die Hauptaufgabe der Oberärzte bestand darin, für irgendwelche Eventualitäten präsent zu sein. Dieser Bereitschaftsdienst war natürlich auch bei Kaffee und Kuchen möglich. Jeder wusste also, wo Oberarzt Dr. Huber am ehesten zu finden war.
Aber