Die verfeindete Mafiafamilie Pappalardo aus Kalabrien?
Es summt in seinen Ohren, seine Hände werden feucht, auch das noch!
Salvatore kann den Wagen nicht mehr bremsen, ist viel zu schnell, reißt das Steuer herum.
Der Kastenwagen schlittert aus der Kurve steil bergab die Böschung hinunter, begleitet von diesem grausigen Klopfen. Endlich, er bleibt irgendwo hängen.
Nur: Der Wagen springt nicht mehr an. Salvatore fischt nervös nach seinem Handy, tippt 888, die Familien-N otfall-Nummer.
Der Padre ist sofort dran. „Wo bist du, Salvatore?“, schreit er.
„Wo seid ihr? Wieso rast ihr mir davon? Ich bin vor einer Straßensperre in der Kurve rechts die Böschung hinunter. Und euer toter Mann lebt übrigens noch!“, stammelt Salvatore.
„Unsinn, du siehst und hörst Gespenster, der ist so tot wie ein Stein! Du bist erwachsen, jetzt hör mit deinen Fantasien auf. Du sollst mal mein Nachfolger werden. Also sei ein Mann und durchhalten!“
„Ich will nicht dein Nachfolger werden“, stöhnt Salvatore in die Muschel, aber da hat der Padre schon aufgelegt.
Salvatore schließt die Augen. Einatmen, ausatmen, nochmal und nochmal. Minuten vergehen. Das Klopfen, es hat tatsächlich aufgehört. Hat es das?
Er schreckt hoch. Nein, es klopft jetzt an der Scheibe.
Mamma Mia, denkt er, soll das nun auch mein letztes Stündchen gewesen sein?
Aus den Augenwinkeln sieht er Giannis breites Grinsen. Sein Goldzahn blinkt. Mit Anfang 30.
„Entspann dich! Alles paletti, Bruder. Die Pappalardo haben tatsächlich die Straße gesperrt. Wahrscheinlich hatte der Tote auch einen Notfallknopf und Verstärkung organisiert. Du kommst jetzt hier raus und wir fackeln den Karren samt Inhalt ab. Zum See, das schaffen wir bei dem Chaos, das du fabrizierst, nicht. Die Bande von der Straßensperre haben wir schon kalt gemacht. War ein Kinderspiel. Kommst du nachher noch mit in die Trattoria?“
„Du, ich habe für heute eigentlich genug“, erwidert Salvatore müde.
Das ist jetzt das allerletzte Mal, schwört er sich, aber das hat er sich die letzten 100 Male auch schon geschworen.
*
Ein paar Stunden später sitzt Salvatore Pulvirenti, 36, ältester von drei Brüdern, vor seinem vollen Teller mit der für Sizilien so typischen Pasta con le Sarde.
Hochgewachsen, 1 Meter 85, muskulös, dunkle Locken umrahmen sein weiches Gesicht. Nur die Nase ist zu groß, gibt ihm aber etwas von einem stolzen Adler. Seine Augen sind kurioserweise hellgrün, wie das klare Meer bei Palermo.
Auf der Brust erinnert eine lange Narbe an die Messerstecherei mit Fernando, dem Sohn und Anführer des Pappalardo-Clans. Aus Kalabrien versuchen sie, immer weiter nach Sizilien vorzurücken, zum Leidwesen der Pulvirenti. Sizilien ist ihr Boden, schon immer gewesen.
Während die Familie einen Rotwein nach dem anderen bechert, versinkt Salvatore in Gedanken:
Ich bin ein stiller Mensch. Rede nicht viel, betrachte lieber das Meer, fühle den warmen Sand in meinen Händen, sammle Muscheln. Die gibt es bei uns in allen Farben und Formen. Ansonsten schreibe ich Gedichte und romantische Songs.
Ich mag hier nicht mehr mitspielen. Die Grausamkeit der Cosa Nostra, Drohungen, Erpressungen, schrecklich. Gianni und Sergio liegt es einfach besser. Ich fühle mich immer fremder in dieser brutalen Welt. Der Padre will nichts davon hören. Es gab schon arg Streit deswegen. Als ich ihm damals vorgeschlagen habe, einen normalen Beruf zu ergreifen, ging er auf wie eine Pizza Calzone:
„Schande! Schäm dich! Ich habe wohl in deiner Erziehung versagt“, donnerte er los. „Nie wieder kommst du mir mit so einem Unsinn, dass das klar ist!“
Er verließ dann fluchend den Raum.
Nur, um wen geht es denn hier eigentlich?
Um mich, Mich, MICH?
Nein! Nur um ihn, Ihn, IHN!
Oft sitze ich nachts verzweifelt am Strand, frage die Sterne um Rat. Was tu ich nur hier …? Verbreite Leid, vergeige mein eigenes Leben, unterwerfe mich dem Willen anderer. Wie kann ich diesem Damoklesschwert entkommen? Ich müsste schon das Mittelmeer durchschwimmen, Richtung Afrika. Aber selbst da würde mich einer unserer Schlepper schnappen. Überall hat der Padre seine Finger drin: Libyen, Rom, und sogar in New York.
Ich kann ein Lied davon singen. Es ist unmöglich, seinen Fängen zu entkommen.
Vielleicht sollte ich zur Polizei gehen?
Als Kronzeuge hätte ich eventuell eine Chance da rauszukommen. Luigi, mein Freund bei der Lokalpolizei, deutet es manchmal an. Ob er etwas ahnt? Aber um danach zu überleben, müsste ich weit weg aus meiner geliebten Heimat. Vielleicht sogar bis nach Neuseeland. Schafe züchten.
Was wäre dann mit der Mamma, mit Nina? Ich würde auch sie ins Grab bringen.
Das bringe ich nicht übers Herz. Lieber opfere ich mich und mache weiter, so milde, wie es für einen Mafioso eben geht.
„Dolce?“, ruft der Ober und reißt Salvatore aus seinem Traum. „Cassata, cannoli, gelato?“
Salvatore blickt auf, schüttelt dann traurig den Kopf. Nach so viel Blut bringt er keinen Nachtisch mehr runter.
Achselzuckend verlässt der Ober den Tisch.
Komisch, das hat Salvatore doch sonst immer gerne gegessen.
Nina
„Ciao Nina, wie geht’s dir? Du siehst blass aus. Sorgen?“
Salvatore trifft Nina ab und zu heimlich auf einen Cappuccino.
Immer um 11 Uhr. Da macht sie Pause in der kleinen Bar hinter ihrer Anwaltspraxis.
Nachdem er damals den Liebesbrief in ihre Schultasche geschmuggelt hat und sie seine Freundin wurde, hatten sie einen wunderbare Sommer. Am Strand schleckten sie Eis und bauten die besten Sandburgen. Abends versuchten sie schüchtern einen Tanz auf der Piazza.
Das war lange bevor sich die Väter ihrer Familien, Don Pulvirenti und Don Pappalardo, aus irgendeinem nichtigen Grund verfeindeten. Lange bevor Salvatore diese Messerstecherei mit Ninas Bruder Fernando hatte.
Salvatore hatte Nina nie aus den Augen verloren. Auch nicht, als sie diesen Riccardo heiraten musste.
„Ach ja“, antwortet Nina. „Stress mit ein paar Fällen meines Vaters. Ich muss ihn und Fernando verteidigen. In mehreren fiesen Dingen. Unangenehm.“
Salvatore malt mit seinem silbernen Espressolöffel ein Herz auf ihren Cappuccino. Das hatte er lange geübt.
„Ach Nina, sollten wir nicht beide verschwinden?
Wie damals, mit dem letzten Schnellboot nach Capri zum Sonnenuntergang, weißt du noch?“
Nina lächelt milde und streicht sich eine braune Locke aus der Stirn.
„Du bist und bleibst ein Träumer, Salvi! Riccardo, Fernando oder deine Familie würden uns finden. Egal wer, wir sind dann Fischfutter, wenn die rote Sonne bei Capri im Meer versinkt.“
Dabei lässt sie etwas Zucker in ihren Cappuccino rieseln.
„Wie geht’s deiner kleinen Maria?“
Salvatore wechselt das Thema.
„Maria will im Moment Ärztin oder Anwältin werden, aber nur für die Guten, sagt sie, und wenn Ärztin, dann nur in Krankenhäusern, in denen es leckeres Essen gibt.“
Er legt seine Hand auf Ninas gebräunten Arm.
„Nina, du und Maria, kommt hier raus mit mir, ich finde eine Lösung. Mit Riccardo, das geht doch schon lange nicht mehr, ich sehe es dir an. Du hast ihn nie geliebt.“
Er