»Begreifen Sie denn nicht, dass irgendjemand etwas unternehmen muss?«
»Und dieser Jemand sind Sie?«
»Nein, nein, nicht ich persönlich. In Zeiten wie diesen gibt es keine persönliche Lösung.«
»Ich wüsste nicht, warum nicht. Selbst in ›Zeiten wie diesen‹, wie Sie es nennen, ist man immer noch eine Person.«
»Sollte man aber nicht! In Krisenzeiten, wenn es um Leben und Tod geht, kann man nicht an seine eigenen unbedeutenden Probleme und Sorgen denken.«
»Ich versichere Ihnen, da liegen Sie völlig falsch. Gegen Ende des Krieges, während eines schweren Luftangriffs, habe ich mich viel weniger mit dem Gedanken an den Tod beschäftigt als mit den Schmerzen eines Hühnerauges an meinem kleinen Zeh. Das hat mich damals überrascht. Denk daran, sagte ich mir, dass du jeden Augenblick das Zeitliche segnen kannst. Und trotzdem musste ich ständig an das Hühnerauge denken – und war sogar beleidigt, dass ich außer meinen Schmerzen auch noch Angst vor dem Tod haben sollte. Gerade weil ich hätte sterben können, nahmen sämtliche kleinen persönlichen Dinge in meinem Leben eine erhöhte Bedeutung an. Ich habe gesehen, wie eine Frau von einem Auto erfasst wurde und sich das Bein brach, doch die Tränen kamen ihr, weil ihr Strumpf eine Laufmasche bekommen hatte.«
»Was lediglich zeigt, wie töricht Frauen sind!«
»Es zeigt, wie die Menschen wirklich sind. Vielleicht hat genau dieses Augenmerk auf das persönliche Leben dazu geführt, dass die Menschheit überlebt hat.«
Alec Legge lachte verächtlich.
»Manchmal«, sagte er, »finde ich Letzteres bedauerlich.«
»Verstehen Sie, es ist eine Art von Demut.« Poirot ließ nicht locker. »Und Demut ist etwas Wichtiges. Ich weiß noch, während des Krieges stand bei Ihnen überall in den U-Bahnen die Losung: ›Es hängt alles von Dir ab.‹ Sie stammte, glaube ich, von einem bedeutenden Geistlichen, aber meiner Meinung nach war es eine bedenkliche und gefährliche Doktrin. Denn sie ist falsch. Nicht alles hängt von, sagen wir, Mrs Blank aus Little-Blank-in-the-Marsh ab. Und wenn ihr eingeredet wird, dass es das doch tut, dann ist das nicht gut für ihren Charakter. Während sie überlegt, welche Rolle sie im Weltgeschehen spielen kann, stößt das Baby den Teekessel um.«
»Ich glaube, Ihre Ansichten sind recht altmodisch. Wie würde denn Ihre Parole lauten?«
»Ich muss mir nichts Neues ausdenken. Es gibt hierzulande einen älteren Leitsatz, der mich durchaus zufriedenstellt.«
»Und der wäre?«
»Vertraue auf Gott und halte dein Pulver trocken.«
»Soso …« Alec Legge wirkte belustigt. »Höchst unerwartet, aus Ihrem Mund. Wissen Sie, was ich in diesem Land gerne sehen würde?«
»Zweifellos irgendetwas Durchschlagendes und Unangenehmes«, erwiderte Poirot lächelnd.
Alec Legge blieb ernst.
»Ich würde es gern sehen, wenn alle Minderbemittelten abserviert würden – einfach abserviert. Keine Fortpflanzung mehr! Wenn sich über eine ganze Generation hinweg lediglich die Intelligenten fortpflanzen dürften – was meinen Sie, was das für Resultate brächte.«
»Eventuell einen rasanten Anstieg von Psychiatriepatienten«, erwiderte Poirot trocken. »Eine Pflanze braucht Wurzeln ebenso wie Blüten, Mr Legge. Ganz egal, wie groß und schön die Blüten sind, wenn die Wurzeln in der Erde zerstört werden, gibt es auch keine Blüten mehr.« Im Plauderton fügte er hinzu: »Wäre Lady Stubbs Ihrer Ansicht nach eine Kandidatin für die Todeskammer?«
»Ja, allerdings. Wozu ist eine Frau wie sie gut? Was hat sie je zum Wohl der Gesellschaft beigetragen? Hat sie je irgendeinen Gedanken gehabt, der sich nicht um Kleider, Pelze oder Juwelen drehte? Wie gesagt, wozu ist sie gut?«
»Sie und ich«, erklärte Poirot ausdruckslos, »sind sicher deutlich intelligenter als Lady Stubbs. Aber«, hier schüttelte er traurig den Kopf, »ich fürchte, es führt kein Weg daran vorbei, dass wir längst nicht so dekorativ sind.«
»Dekorativ …«, schnaubte Alec verächtlich, wurde jedoch unterbrochen, da Mrs Oliver und Captain Warburton durch die Terrassentür zurückkehrten.
Kapitel 4
Sie müssen unbedingt kommen und sich die ganzen Hinweise und alles für die Mörderjagd ansehen, Monsieur Poirot«, sagte Mrs Oliver atemlos.
Poirot erhob sich und folgte den beiden gehorsam.
Sie gingen durch die Eingangshalle in einen kleinen Raum, der seiner Einrichtung nach eindeutig als Büro diente.
»Die tödlichen Tatwaffen zu Ihrer Rechten«, sagte Captain Warburton und wies mit der Hand auf einen grün bespannten Kartentisch. Darauf lagen eine kleine Pistole, ein Bleirohr mit einem ominösen rostfarbenen Fleck, ein blaues Fläschchen mit der Aufschrift »Gift«, ein Stück Wäscheleine sowie eine Injektionsspritze.
»Das sind die Tatwaffen«, erklärte Mrs Oliver, »und das hier die Verdächtigen.«
Sie reichte ihm eine gedruckte Karte, die er voller Interesse las:
Tatverdächtige
Estelle Glynne – eine schöne, mysteriöse junge Frau, Gast von
Colonel Blunt – dem örtlichen Gutsherrn, dessen Tochter
Joan – verheiratet ist mit
Peter Gaye – einem jungen Atomphysiker.
Miss Willing – eine Haushälterin.
Quiett – ein Butler.
Maya Stavisky – eine junge Anhalterin.
Esteban Loyola – ein ungeladener Gast.
Poirot blinzelte verständnislos und sah stumm zu Mrs Oliver hinüber.
»Ein grandioses Figurenpersonal«, sagte er schließlich höflich. »Aber gestatten Sie mir eine Frage, Madame: Was sollen die Teilnehmer damit tun?«
»Drehen Sie die Karte um«, sagte Captain Warburton.
Poirot tat es.
Auf der Rückseite stand gedruckt:
Name und Adresse:
Lösung
Name des Mörders:
Tatwaffe:
Motiv:
Zeit und Ort:
Gründe für Ihre Schlussfolgerungen:
»Jeder Teilnehmer bekommt eine dieser Karten«, erklärte Captain Warburton schnell. »Dazu einen Notizblock und einen Bleistift, damit man sich die Hinweise aufschreiben kann. Es gibt sechs Hinweise. Man zieht von einem zum nächsten, wie bei einer Schatzsuche, und die Tatwaffen sind an verschiedenen Orten versteckt. Hier ist der erste Hinweis. Ein Schnappschuss. Damit geht’s für alle los.«
Poirot nahm ein kleines Foto entgegen und sah es sich stirnrunzelnd an. Dann stellte er es auf den Kopf. Er wirkte immer noch verwirrt. Warburton lachte.
»Geniale kleine Trickaufnahme, was?«, sagte er selbstgefällig. »Ziemlich einfach, wenn man weiß, was es ist.«
Bei Poirot, der nicht wusste, was es war, kam zunehmend Unmut auf.
»Eine Art Gitterfenster?«, schlug er vor.
»Sieht ein bisschen danach aus, das gebe ich zu. Nein, es ist ein Stückchen Tennisnetz.«
»Aha.« Noch einmal sah sich Poirot den Schnappschuss an. »Ja, genau wie Sie sagen – wenn man weiß, was es ist, ist es ziemlich eindeutig!«
»Es kommt immer darauf an, wie man etwas betrachtet«, lachte Warburton.
»Eine sehr