„Nun mach schon!“, zischte Petra ihren Miet-Lover an. „Raus auf den Balkon. Klettere an der Fassade hinunter.“
Bruno tippte sich an die Stirn. „Soll ich mir den Hals brechen?“
„Ist es dir lieber, Alfs Männer brechen ihn dir?“
„Petra!“, rief Prati nun scharf. Ohne Schätzchen.
„Ja, Alf!“, gab sie nervös zurück. „Ich bin hier!“ Sie bedeutete Bruno mit wedelnden Händen, sich aus dem Staub zu machen, und ging zur Tür.
Trotz der gebotenen Eile ließ Bruno Pfaff die lederne Schmuckschatulle mitgehen, die auf dem Frisiertisch stand. Petra bemerkte es nicht.
Sie öffnete soeben die Tür. „Hier bin ich, Alfie-Liebling. Hier oben. Ich habe geschlafen.“
Bruno eilte auf den Balkon hinaus, warf die Schatulle in den Garten hinunter und brachte sich sodann in Sicherheit. Er stellte sich dabei nicht sonderlich geschickt an. Zweimal wäre er beinahe abgerutscht und in die Tiefe gefallen. Beide Male konnte er den Sturz nur mit großer Mühe verhindern, und sein Herz raste wie verrückt.
Nie wieder, dachte er. Nie wieder setze ich mich einer solchen Gefahr aus. Er sprang ins weiche Gras, kippte um und verspürte einen glühenden Schmerz im rechten Fußgelenk. Mit verzerrtem Gesicht presste er die Kiefer zusammen und stöhnte leise.
Einer von Alf Pratis Leibwächtern erschien auf der Terrasse und zündete sich eine Zigarette an. Im Haus durfte nicht geraucht werden.
Bruno lag hinter einem Busch, ihn konnte der große Kerl nicht sehen. Aber die Schmuckschatulle lag drei Meter von ihm entfernt wie auf einem grünen Präsentierteller.
Bruno überlegte: Soll ich sie liegen lassen oder holen und riskieren, dabei entdeckt zu werden?
„Holen!“, sagte eine Stimme in ihm.
„Aber vielleicht ist sie leer“, hielt er im Geist dagegen.
„Du bist doch ein Spieler. Hopp oder drop.“
Der Leibwächter wurde von Alf Prati gerufen. „Ja, Boss?“, antwortete der große, breitschultrige Mann sofort.
„Komm herein!“
„Ja, Boss!“ Der Mann machte noch einen kräftigen Zug, dann schnippte er die halb gerauchte Zigarette in den Busch, hinter dem Bruno Pfaff lag, und kehrte in die Villa zurück.
Bruno richtete sich vorsichtig auf. Der Schmerz im Fußgelenk hielt sich in erträglichen Grenzen. Er humpelte zur Schatulle, hob sie auf, klemmte sie sich unter den Arm und entfernte sich so unauffällig wie möglich.
Aber war er den Bodyguards tatsächlich nicht aufgefallen? Es gelang ihm zwar, das Grundstück unbehelligt zu verlassen, doch er fühlte sich nicht mehr wohl in seiner Haut, weil er nicht sicher sein konnte, dass niemand ihn bemerkt hatte. Vielleicht hatten sie ihn gesehen – und erkannt. Er war zwar nur ein kleines, unbedeutendes Licht in St. Pauli, jedoch bekannt wie ein bunter Hund, und er hatte absolut kein Verlangen danach, Alf Pratis Zorn zu spüren zu bekommen.
Von diesem Augenblick an begann ihm in Hamburg der Boden unter den Füßen zu heiß zu werden, und aus diesem Grund beschloss er, seine Zelte in einer anderen Stadt aufzuschlagen.
In einer Stadt, die weit entfernt von Hamburg war. In der Stadt, in der vor zweiundzwanzig Jahren seine Wiege gestanden hatte.
Er fuhr nach Hause. Als er die Kellerwohnung betrat, fragte Rosy Kupfer: „Was ist mit deinem Fuß los? Wieso hinkst du?“ Sie war gerade dabei, ihre roten Zöpfe neu zu flechten.
„Bin umgekippt“, knurrte Bruno Pfaff.
„Was ist das für eine Schatulle?“
„Frag nicht so viel. Pack deine Siebensachen, wir verduften.“
„Für lange?“
„Für sehr lange.“
„Und wohin?“
„Nach München“, antwortete Bruno.
12
Nach der Operation sah Dr. Kayser seinen Patienten wieder. Dietmar Föhrmann ging es erfreulich gut. Er strahlte den Grünwalder Arzt an. „Liebe Güte, was habe ich mich vor dem Eingriff gefürchtet, und dabei …“
„Sie sehen großartig aus“ , stellte der Allgemeinmediziner fest.
„Wieso habe ich Ihnen nicht geglaubt, dass diese Knopflochoperation ein Klacks ist?“
Sven Kayser lächelte. „Nun, ich habe nicht gesagt, dass sie ein Klacks ist …“
„Auf jeden Fall war meine übergroße Angst völlig unbegründet“, erklärte Dietmar Föhrmann unendlich erleichtert. „Vorhin war Dr. Lorentz hier und hat mich untersucht. Er ist sehr zuversichtlich, dass er mich in drei Tagen entlassen kann. Zur Nachversorgung komme ich dann zu Ihnen in die Praxis. Und von nun an werde ich an Ihren Worten nie mehr zweifeln, Herr Doktor, das verspreche ich.“
Dr. Kayser schmunzelte. „Das höre ich sehr gern, Herr Föhrmann. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Bis bald in der Gartenstraße.“
Er verließ das Krankenzimmer. Auf dem Flur unterhielt sich Nicola Sperling mit Dr. Christine Graf, der Fachärztin für Röntgenologie und Strahlenheilkunde.
Als die Kinderärztin Dr. Kayser bemerkte, verabschiedete sie sich von ihrer Kollegin und kam zu ihm. „Hallo, Sven.“
„Nun, wie geht es unserer werdenden Mutti?“, erkundigte sich der Grünwalder Arzt.
Nicola seufzte. „Die allmorgendliche Übelkeit macht mir ziemlich zu schaffen.“
„Sie wird aufhören.“
„Ich weiß. Nach drei Monaten. Wenn die Anpassungsphase zu Ende geht und die Wohlfühlphase beginnt, die nach weiteren drei Monaten von der Belastungsphase abgelöst wird.“
Dr. Kayser lächelte. „Du kennst dich aus.“
„Ich bin Ärztin.“
Sven zeigte auf ihre Augen. „Da ist etwas in deinem Blick … Hast du Sorgen?“
Nicola schüttelte den Kopf. „Nein.“
„Irgendwelche Probleme mit Torben?“
„Torben ist ganz lieb zu mir. Und schrecklich fürsorglich. Wann immer es ihm ausgeht, sieht er nach mir.“
„Was hat dann dieser Ausdruck zu bedeuten?“
Nicola zuckte mit den Schultern. „Ach, eigentlich nichts.“
„Eigentlich nichts?“
„Ich sollte dem Ganzen keine Bedeutung beimessen, aber in der Schwangerschaft sind wir Frauen ja so furchtbar sensibel, wie du weißt.“
„Was bedrückt dich? Heraus damit!“, verlangte Dr. Kayser.
„Ich hatte letzte Nacht einen Alptraum …“
„Ja? Und?“
„Es war ein ziemlich unangenehmer Traum“, erzählte Nicola Sperling. „Ich war mit Torben – irgendwo … Ich weiß nicht, wo … Mir kam alles ziemlich fremd vor. Wir waren glücklich und verliebt, tollten auf einer großen Wiese umher wie Kinder. Als ich mich in einen weißen Gartensessel setzte, um kurz zu verschnaufen, spürte ich auf einmal Wärme an meinen Beinen, und als ich nach unten blickte …“
„Was war da?“
„Blut … Es war alles voller Blut … Mein Kleid, meine Beine, der Sessel, der Boden …“ Nicola sah den Grünwalder Arzt ernst an. „Ich habe in diesem Traum mein Baby verloren, Sven. Das war entsetzlich