Der Sommer mit Josie. Sandy Lee. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sandy Lee
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Короткие любовные романы
Год издания: 0
isbn: 9783969405147
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wusste, dass ihre Freundin keine Ruhe geben würde, bis sie sich entschied.

      »Also gut. Ich werd den Vorschlag zu Hause mal auf den Tisch packen. Mal sehen, was die Kinder sagen.«

      Veronika wollte gerade wieder nach vorn gehen, da eine Kundin das Geschäft betrat. Da rief ihr Barbara hinterher: »Ach übrigens – ich verschwinde heute mal um halb zwei Uhr. Ich muss noch fürs Wochenende einkaufen und will am Nachmittag zu Hause sein. Wegen der Zeugnisse.«

      2

      Es war erst kurz nach zwei Uhr, als Barbara, bepackt mit ihren Einkäufen, das Haus betrat. Sie stieg die Stufen zur Wohnung hinauf, setzte die Beutel ab und fischte den Schlüssel aus ihrer Tasche. Die Tür öffnete sich fast lautlos. Barbara nahm die schweren Beutel wieder auf und trat in den Flur. Mit einem kleinen Stoß des Ellenbogens klappte die Tür zu. – Bumm!

      Der Stoß war etwas zu heftig gewesen, so dass die Tür laut ins Schloss fiel. Für einen Moment glaubte Barbara, allein in der Wohnung zu sein. Ilsa trödelte wahrscheinlich mit Caro, wieder einmal, und Daniel …

      Die Tür des Bades öffnete sich. Daniel war also doch zu Hause. Aber was …

      Ein dumpfes Poltern, ein Klirren folgte. Barbara waren die Beutel aus der Hand gefallen. Die Milchflasche hatte den Aufprall nicht überlebt. Barbara stand für einen Augenblick wie erstarrt.

      War das Daniel, ihr Sohn? Ja, natürlich … aber andererseits war er es auch nicht. Er trug eines von Barbaras Sommerkleidern, das helle mit dem blauen Blütenmuster. Und er hatte Rundungen, wo kein Mann welche aufweisen kann, wenn er Daniels Statur besitzt. Die Haare waren offen, glatt fielen sie auf seine Schultern herab. Und da er seiner Mutter in diesem Moment genau ins Gesicht sah, bemerkte sie auch den Lidschatten und den Lippenstift.

      »Mama … lass dir erklären …«, setzte er an, um das Schweigen zu brechen.

      Barbara hatte sich aus ihrer Starre gelöst.

      »Stopp!«, brach sie seinen Satz ab. »Lass mir fünf Minuten Zeit!«

      Sie ging ins Wohnzimmer und hockte sich mit angezogenen Beinen auf einen der Sessel. Ihr Blick fiel auf die Schrankwand. In einem Fach stand ein Bilderrahmen. Ein Foto der Familie. Hendrik, sie, Ilsa und Daniel. Das Bild war vom letzten Sommer. Daniel …

      Draußen hörte sie, wie der Junge die Beutel aufhob und in die Küche trug. Dann verschwand er in seinem Zimmer – nicht, ohne einen Blick vom Flur durch die offene Wohnzimmertür zu werfen.

      Barbaras Gedanken wirbelten durcheinander. Sie glaubte, ihre Kinder gut zu kennen. Hatte sie etwas übersehen? Noch nie war ihr auch der Funke einer Idee gekommen, die zu dem eben Gesehenen passte.

      Sie schaute zum Fenster. Draußen schien die Sonne; bis eben war es ein herrlicher Tag gewesen. Plötzlich, von einer Minute zur anderen, fühlte sie sich …

      Barbara konnte nicht sagen, was sie genau fühlte. Ihr Sohn war da und war doch nicht da. Jedenfalls in ihrem Inneren.

      Vielleicht hatten Frauen nach dem Krieg so etwas Ähnliches gefühlt, wenn ihr Mann, ihr Sohn nicht nach Hause zurückgekehrt war. Sie wussten nicht, ob er lebte oder nicht, aber sie hofften, oft jahrelang, dass er eines Tages wieder durch die Tür kommen möge.

      So eine Ungewissheit hatte auch Barbara ergriffen. Sie hatte gesehen, was ist. Sie glaubte zu wissen, was war. Und sie hatte keine Ahnung, was sein wird.

      Natürlich hatte sie schon von den verschiedenen Spielarten gehört und auch gelesen, die Menschen ausleben. Aber wer denkt schon im tiefsten häuslichen Frieden an das eigene Kind …

      Die Gedanken begannen, sich zu entwirren. Barbara überlegte von vorn.

      Erstens, sagte sie sich, habe ich gerade meinen fünfzehnjährigen Sohn in meinem Kleid gesehen, geschminkt und – zugegeben – sehr fraulich.

      Zweitens gibt es dafür nur zwei Erklärungen. Wenn dieser Aufzug ernst gemeint war – und daran zweifelte sie keine Sekunde – dann ist mein Kind entweder Crossdresser oder Transgender.

      Drittens kann ich darüber nachgrübeln, mir das Ganze aber sparen und direkt mit ihm sprechen. Um das Gespräch würde Daniel sowieso nicht herumkommen. Es schien sogar sehr naheliegend, dass er es selbst suchen möchte. Schließlich hatte er vorhin versucht, zu erklären …

      Barbara erhob sich. Fakt ist, stellte sie fest, dass ich ihn nicht in die Enge treiben darf. Egal, was bei der Sache herauskommt, er ist mein Kind. Er ist mein Kind …

      Es dauerte noch fünf weitere Minuten, bis sich die Tür zu Daniels Zimmer öffnete.

      Barbara hatte inzwischen die Lebensmittel verstaut und die unbrauchbaren Reste entsorgt. Auf dem Tisch lag ein Zettel, der die Verluste auswies. Sie würde die Sachen nachkaufen … nicht jetzt … nicht heute.

      Daniel hatte sich umgezogen. Er trug wieder seine Jeans, ein weißes T-Shirt, und er hatte die Haare zusammengebunden.

      Langsam trat er in die Küche.

      »Mama …«

      Barbara riss sich zusammen. Sie durfte jetzt keine Abwehrhaltung aufbauen.

      »Warte bitte!«, sagte sie mit ruhiger Stimme und sah ihm in die Augen. »Ehe wir hier sprechen, sollst du wissen, dass es nichts gibt, was ich dir übelnehme. Es gibt für alles eine Erklärung, und ich bin bereit, dich anzuhören, dir zu helfen. Aber um das zu können, muss ich dich verstehen. Also sei bitte offen, denn alles, was hier unausgesprochen bleibt, quält dich und mich. Du bist mein Kind und wirst es immer bleiben. Hab keine Angst!«

      Diese Sätze gingen nicht leicht über ihre Lippen. Sie gab ihrem Sohn einen großen Vertrauensvorschuss, und sie hoffte, er würde die Chance ergreifen, ihr dieses Vertrauen im gleichen Maße entgegenzubringen.

      Daniel holte tief Luft. Doch ehe er beginnen konnte, nahm ihm seine Mutter am Arm und führte ihn ins Wohnzimmer.

      »Das sind keine Küchenschürzengespräche.«

      Sie setzten sich an den Couchtisch, Barbara auf das Sofa, Daniel in den Sessel neben ihr.

      Barbara legte ihre Hand auf seine Schulter.

      »So ist es doch viel besser.«

      Daniel begann. Seine Stimme zitterte, als er die ersten Worte suchte.

      »Mama … das mit dem Kleid … also das ganze Umziehen …«

      Er stockte. Er musste etwas sagen, und er musste es jetzt.

      Barbara sah ihn an und schwieg. Sie durfte auf keinen Fall auf eine Antwort drängen. Und ihr Blick sagte ihm, dass sie das auch nie tun würde.

      Daniel nahm all seinen Mut zusammen, um den einen, den alles erklärenden, aber auch alles verändernden Satz zu sagen.

      »Mama … ich glaube … ich glaube, dass ich … ein Mädchen bin.«

      Er schloss die Augen, um nichts mehr sehen zu müssen. Dieser Satz hatte ihn so unendlich viel Kraft gekostet. Die Leere, in die er jetzt blickte, wirkte dagegen wohltuend.

      Barbara sagte nichts. Sie wusste, was diese Aussage bedeutete – für ihn, für sie, für alle. Und wenn das alles, was sich hier abspielte, wahr war, dann würde es einen harten Kampf geben. Dann musste die ganze Familie zu ihm stehen, seine Freunde, alle. Denn Daniel würde jeden einzelnen brauchen, um diesen Kampf zu gewinnen.

      Sie war jetzt die einzige Mitwisserin eines großen Geheimnisses. Und sie hatte Angst. Angst, dass ihr Kind das ganze Ausmaß dieses einen Satzes noch gar nicht übersehen konnte. Ja, sie selbst stand jetzt vor einer großen Aufgabe. Sie musste sich absolut sicher sein, dass dieses Gefühl ihres Kindes tief verankert und von Dauer war. Dann würde sie ihn darin bestärken, seinen Weg zu gehen. Auch wenn es – im Augenblick – ein für sie sehr schmerzhafter Weg zu sein schien.

      »Es ist gut, okay, es ist gut.«

      Barbara