»Ja, das ist Wien. Da kann man nichts machen.«
Genauso, wie man nichts dagegen machen konnte, dass die Hofbediensteten, die die Eintrittskarten zur Hofredoute den geladenen Gästen beim Eintritt abnahmen, diese sogleich an nicht geladene vor dem Tor wartende Wienerinnen und Wiener verkauften. So hatte auch Aaron Rosenstrauch Einlass gefunden. Den Kartenkauf tätigte er nicht aus Vergnügungssucht, sondern aus kaufmännischem Kalkül. Sein Bestreben war es gewesen, Herren des Adels kennenzulernen und sich ihnen bei dieser Gelegenheit als Geldleiher anzudienen. Leider war in dem Gedränge der Massen kein interessanter Kontakt zustande gekommen. Umso gespannter hatte er auf den heutigen Tag gewartet. Auf das Volksfest im Augarten. Auch hierher würden die Massen strömen, da der Eintritt in diesem Fall frei war. Aber im riesigen Park des Augartenpalais würden sich die Massen verlaufen. Und er, Aaron Rosenstrauch, würde sich gezielt in der Nähe der für die Souveräne und Berühmtheiten des Wiener Kongresses errichteten Tribünen herumtreiben. Knapp vor drei Uhr nachmittags stand er auf, schlüpfte in sein bestes Ausgehgewand, platzierte keck den Chapeau Claque2 auf seinem Haupt, griff zum Spazierstock und verließ flotten Schrittes sein in der Nähe der Karmeliterkirche gelegenes Wohnhaus. Zehn Minuten später befand er sich inmitten einer Menschenmenge, die in den Park des Augartenpalais strömte. Gegen fünf Uhr kamen dann die Allerhöchsten und Höchsten Herrschaften mit ihrem Gefolge, und das Fest nahm seinen Lauf. Begleitet von militärischer Musik zogen vierhundert zum Fest geladene Invaliden der napoleonischen Kriege ein. Sie marschierten an der Hofloge vorbei und nahmen in eigens für sie errichteten Zelten Platz, wo sie bewirtet wurden. Darauf begannen Spiele aller Art. Von diversen Wettläufen über ein Rennen kleiner orientalischer Pferde bis hin zu Kunstreiter-Vorführungen und choreografierten gymnastischen Übungen. Links vom Schloss hatte man einen hundert Fuß3 hohen Mast errichtet, auf dem ein hölzerner Vogel saß. Auf ihn schoss, sehr zum Gaudium der Zuschauer, eine Gruppe Tiroler Schützen mit Armbrüsten. Schließlich erhob sich auch ein Heißluftballon in die Lüfte. Der in dem Ballonkorb befindliche Aeronaut schwenkte, als er über die Köpfe der zwanzigtausend Menschen zählenden Menge schwebte, die Fahnen der in Wien anwesenden Regenten. In den verschiedensten Bereichen des Schlossparks spielten Orchester, in vier elegant dekorierten Zelten führten Böhmen, Ungarn, Österreicher und Tiroler in den malerischen Trachten ihrer Länder Nationaltänze auf. Die Allerhöchsten und Höchsten Herrschaften hatten mittlerweile die Tribünen verlassen, mischten sich ohne Begleitung unters Volk, beobachteten amüsiert das bunte Spektakel und plauderten auch mit den einfachen Menschen. Als es allmählich dämmerte, brachten die unzähligen herumschwirrenden Hofbediensteten hunderttausend Laternenlampen zum Leuchten. Sie schafften eine zauberhafte Atmosphäre, die durch ein Feuerwerk, das man vor dem Schloss abbrannte, noch märchenhafter wurde. Zu diesem Zeitpunkt machte Aaron Rosenstrauch die Bekanntschaft mit Philipp Graf Stadion, der bis vor Kurzem Außenminister des Kaisers war. Rosenstrauch plauderte mit ihm über die Faszination von Feuerwerken und über die Kosten all der Festivitäten des Wiener Kongresses. Graf Stadion warf einige Zahlen, die ihm bekannt waren, ein und äußerte seine Skepsis darüber, wie der Ärar all das wohl finanzieren wolle. Ohne Anleihen und Kredite werde es wohl nicht gehen, replizierte Rosenstrauch und präsentierte dem Grafen seine Geschäftskarte. Auf feinstem Büttenpapier standen nur drei Worte: Aaron Rosenstrauch, Geldverleiher.
*
Der Kondolenzbesuch seines Schwiegervaters Johann Ritter von Nordberg war kurz und höflich. Heinrich von Strauch verspürte keinerlei Sympathie oder Mitgefühl. Nun, er hatte nichts anderes erwartet. Schließlich hatte sein Schwiegervater nur nach massivem Druck, den der alte Strauch ausgeübt hatte, der Vermählung seiner Tochter Liebtraud mit Heinrich zugestimmt. Den Druck seines Vaters hatte auch Heinrich zu spüren bekommen. Ihm war damals so gut wie nichts an der blutjungen Liebtraud gelegen. Seine Liebe galt den drallen Mädeln aus der Vorstadt. Ihre strammen Waden, neckischen Bäuchlein und prallen Tutteln4 waren seine Passion. Die magere, anämische Erscheinung Liebtrauds sprach ihn ganz und gar nicht an. Obgleich er ihr zugestehen musste, dass sie dichte blonde Locken, ein ebenmäßig geschnittenes Gesicht sowie schlanke, elegant wirkende Arme und Beine hatte. Auch war das Mädel nicht ungebildet. Von ihrem sechsten Lebensjahr an war sie von einer strengen Gouvernante sowie von erstklassigen Hauslehrern erzogen worden. Aber genau dieser Umstand störte ihn. Liebtrauds Ausstrahlung war die eines Engels. Heinrich von Strauch bevorzugte aber weibliche Bengel: ungezogene, wilde, ordinäre Mädeln. Doch so eine heiratete man in seinen Kreisen nicht. Und da ihm sein Herr Papa mit dem Entzug der finanziellen Alimentationen drohte, willigte er in die Heirat ein, die für ihn nichts anderes als eine strategische, pekuniäre Aktion war. Antonius von Strauch investierte anlässlich der Vermählung seines Sohnes eine hohe sechsstellige Summe in die Ziegelwerke und Schottergruben, die Liebtraud von Nordbergs Vater gehörten. Damit verhinderte er den Konkurs des alten Nordberg und übernahm gleichzeitig Anteile an dem Unternehmen. So wenig erfreulich die Ehe zwischen Liebtraud und Heinrich verlief, so positiv entwickelten sich die kommerziellen Belange der Nordberg Werke. Binnen weniger Jahre produzierten sie wieder satte Gewinne. Auch deshalb, weil Johann Ritter von Nordberg bei wichtigen Entscheidungen in seinem Unternehmen immer die Zustimmung des Baron Strauch einholen musste. Insofern war es nicht verwunderlich, dass ihn das Ableben des alten Strauch nicht sonderlich grämte. Nun gut, dachte Heinrich von Strauch, der Pietät und den Konventionen war Genüge getan. Er stand auf, rief Jean und befahl, die Kerzen, die rund um den Aufgebahrten ihr flackerndes Licht verbreiteten, zu löschen. Er spazierte durch die riesige Wohnung, die sich in der Beletage des Barockpalais befand, in dem sein Herr Papa gewohnt hatte. Plötzlich standen mit gebeugten Köpfen das persönliche Dienstmädel des Alten sowie die Köchin Ottilie, die er seit Kindheitstagen kannte, vor ihm. Beide machten höfliche Knickse.
Er wandte sich an das Dienstmädel:
»Bring’ Sie mir Hut und Überzieher. Ich werd’ jetzt was essen gehen. Ich verspür’ nämlich einen zarten Appetit.«
Die Köchin drängte sich vor und verkündete diensteifrig:
»Gnä’ Herr, ich moch Ihnen gern wos zum Essen. Sie müssen mir nur sagen, wos. Und Wein hamma a an guadn. Gell, Resi?«
Das Dienstmädel nickte, und während sie ihm in den Überzieher half, flötete sie:
»Soll i dem gnä’ Herrn vielleicht einen Gumpoldskirchner aufmachen?«
Heinrich von Strauch winkte dankend ab, sah sich aber das Mädel erstmals genauer an. Sie hatte rote Backen, ein üppiges Dekolleté, pechschwarze Augen und ebensolches Haar. Das war ihm bisher bei den Besuchen seines Vaters glatt entgangen. Einem spontanen Impuls folgend, griff er ihr an den Hintern. Resi kreischte kokett. Heinrich von Strauch war äußerst angetan, denn für einige Sekunden hatte er ein wunderbar dralles Hinterteil in der Hand gehabt.
Als er hinaus auf die Bräunerstraße trat, drehte er sich um und blickte empor. Dieses barocke Palais, das sein Vater 1849 erworben hatte, würde er nun erben. Genauso wie die Dienstboten seines Vaters. Am liebsten würde er sie vor die Tür setzen, aber das gebührte sich nicht. Außerdem stellte Resis – die Kleine hieß doch Resi? – praller Hintern einen nicht zu unterschätzenden Teil des väterlichen Erbes dar. Bei seinem Eheweib würde er allergrößten Argwohn erwecken, wenn er nur die Köchin und die patschierliche5 Resi in seinen eigenen Haushalt übernähmen täte. Also musste er auch den Kammerdiener, die Hausknechte, den Kutscher und alle anderen Dienstboten weiterbeschäftigen.