Mord bei den Festspielen. Sibylle Luise Binder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sibylle Luise Binder
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839262887
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auf mich gab. »Außerdem wird Kommissar Gerstenmeier ja nicht damit hausieren gehen, dass ich ihm die Geschichte mit der Eibe erzählt habe!«

      Der Polizist hatte sehr interessiert zugehört, jetzt hob er die Hand. »Kommissar Gerstenmeier ist mit der Sache befasst?«

      »Ja, er ermittelt wegen des toten Tenors«, antwortete ich.

      »Ich denke, jetzt sollten Sie mir Ihre Geschichte von Anfang an erzählen!«, befand er.

      Lucas streichelte über meine Schulter. »Hoffentlich schaffst du das bis Lindau!«

      *

      Zwei Stunden später lag ich in einem dieser bezaubernden Flügelhemdchen in einem Krankenhausbett und beneidete meinen Mann. Lucas schlief nämlich neben mir. Er gehört zu den Menschen, die immer schlafen können. Er geht ins Bett, sein Kopf trifft das Kissen und schon ist er weg.

      Ich dagegen gehe hundemüde ins Bett, mache das Licht aus, drehe mich in meine Schlafstellung, schließe die Augen – und in dem Moment scheint mein Gehirn den Befehl »Alle grauen Zellen anschnallen! Es geht wieder rund!« auszugeben.

      Zuhause stehe ich dann wieder auf. Bleibe ich nämlich liegen, habe ich innerhalb von ein paar Minuten alles, was in meinem Leben nicht optimal läuft, nach oben gegraben und sehe nur noch Probleme. Also gehe ich lieber an den Computer und spiele Candy Crush oder etwas ähnlich Dämliches oder ich arbeite. Arbeit lenkt ab und macht müde, und wenn ich da im richtigen Moment den Absprung finde, kann ich schließlich schlafen.

      In meiner Krankenhausnacht konnte ich nicht in die Arbeit fliehen. Ich hatte mein Notebook nicht zum Baden mitgenommen. Also musste ich mir zur Unterhaltung ein paar Gedanken machen und erinnerte mich an die Nacht vom 14. Juli.

      Wir sind ein gutes Team und hatten uns auf den Sommer am Bodensee gefreut, wobei uns allerdings klar gewesen war, dass dieser »Don Carlos« kein Zuckerschlecken werden würde. Das von unserem Intendanten bei jeder Gelegenheit so hochgepriesene »Starensemble« umfasste nämlich nicht nur den kolumbianischen Tenor Cayetano Gutiérrez-Martin als Carlos und den brillanten Bass Rocco Banhardt als König Philipp, sondern auch Mario Miercoledi als Maquis de Posa. Und dieser Herr war ein Problem.

      Vor einigen Jahren war Miercoledi in der Szene fast omnipräsent gewesen. Er sang an allen großen Opernhäusern; er beglückte seine Fans mit Konzerten in Fußballstadien; schmetterte italienisches in der Arena in Verona und jodelte im deutschen Fernsehen Weihnachtslieder; er produzierte CDs mit den »schönsten Lovesongs der Klassik« und Crossovers mit irgendwelchen Schlagerstars. Man musste den Fleiß und die Disziplin bewundern, mit denen er sein »Heute hier, morgen dort«-Jetset-Leben bewältigte. Insider und Kollegen bemerkten aber zunehmend, dass seine Stimme in der Höhe überanstrengt klang und in der Mittellage rau. Lange Legato-Linien konnte er nicht mehr »veratmen«, kurz und wenig gut: Wenn er schon zu Anfang seiner Karriere so gesungen hätte, wäre der knödelnde Gesangslehrer Alfred in der »Fledermaus« in Bad Kleinkleckersheim der Höhepunkt seiner Karriere gewesen.

      Allerdings wunderte sich niemand über Miercoledis stimmlichen Abbau. Singen auf dem Niveau, auf dem Opernsänger an großen Häusern unterwegs sind, ist Hochleistungssport und strapaziert die Stimmbänder.

      Dennoch staunte die Fachwelt, als Miercoledi vor drei oder vier Jahren verkündete, seine Stimme habe sich »gesetzt«. Darum sei er jetzt Bariton.

      Ich hatte mir dabei übrigens vorgestellt, dass seine arme Stimme vor Erschöpfung in einen Sessel gefallen und zu müde gewesen war, sich wieder zu erheben.

      Diesen postpubertären Zweitstimmbruch fanden Experten überraschend – vorsichtig gesagt. Stimmlage wird nämlich üblicherweise nicht durch die Höhen und Tiefen definiert, welche ein Sänger erreicht – das ist nämlich auch eine Frage seiner Technik –, sondern durch das Timbre. Von einem Tenor erwartet man zum Beispiel eine strahlende Höhe und einer eher »helle« Stimmfärbung, während der Bariton mit samtig-dunklen Tönen schmeicheln sollte.

      Genug von der Stimmtheorie, zurück zu Miercoledi: Für mich klang er nicht nach Bariton, sondern nach alterndem Tenor. Aber diese meine Ansicht wurde von den Miercoledi-Fans nicht geteilt. Sie saßen offenkundig einem Phänomen auf, über das ich immer wieder staune, das aber zum Beispiel in der Werbung gut bekannt und erforscht ist: der Einfluss der Erwartung.

      Das ist bekannt und nachgewiesen: Drückt man einem Kunden einen Joghurt in die Hand, auf dessen Becher Erdbeeren aufgedruckt sind, meint er, Erdbeeren zu schmecken – selbst wenn im Becher Zitronenjoghurt ist.

      Bei Sängern funktioniert es offenkundig ähnlich. Wenn die Leute oft genug lesen und hören, dass XY ganz toll ist, meinen sie, einen Spitzensänger zu hören – auch wenn der Mensch auf der Bühne aus dem letzten Loch pfeift. Konkret: Wenn der Intendant des Bregenzer Opernfestivals, ein Mann mit 30-jähriger Erfahrung im Musikmanagement, einen Miercoledi engagiert; wenn der große Dirigent Michail Piotrowitsch Jendrowski mit ihm arbeitet; wenn der Regisseur Lucas Benning, selbst ein berühmter Bariton, ihn in seiner Produktion hat, dann muss der toll sein. Das gilt auch, wenn es sich für Opernfan Stephen Müller, im Zivilberuf EDV-Berater, nicht so anhört.

      Stephen Müller hat aber dennoch recht – und wenn er Intendant, Dirigent und Regisseur in einer ruhigen Stunde im Vertrauen fragen könnte, bekäme er das bestätigt. Dann würde der Intendant ihm verraten, dass er ja viel lieber diesen jungen, spektakulären Bariton engagiert hätte, der ihm neulich bei einem Lehrgang aufgefallen ist. Aber den kenne kein Mensch und mit dem könne er keine Tickets für 300 Euro verticken und kriege keinen Kooperationsvertrag mit Yonic, dem Marktführer für klassische Musikaufnahmen. Michail Piotrowitsch würde ebenfalls erklären, dass er lieber den jungen Bariton gehabt hätte, aber dass seine 120 Musiker im Orchester jeden Monat ihr Gehalt wollen und man das nicht mit unbekannten Größen verdient.

      Regisseur und Sänger Lucas schließlich würde seufzen und auf seinen Vertrag verweisen, der nichts über ein Mitspracherecht bei der Besetzung sagt, aber eine Menge bezüglich seiner Loyalitätspflicht gegenüber dem Bregenzer Opernfestival.

      Und so kam’s, dass wir bei den Proben unter Miercoledi, seinen Stimmproblemen und seinen Allüren litten, und Lucas und ich mussten obendrauf noch aushalten, dass der gesamte Miercoledi-Clan – Mario, Ehefrau Giulia und die erwachsenen Töchter Marietta und Mafalda – neben uns wohnte. Ob ihrer Lautstärke ließen sie uns öfter überlegen, ob das Familienoberhaupt nicht nur an Selbstüberschätzung, sondern auch an Schwerhörigkeit litt. Ohrenstöpsel gehörten zu unserer Standardausrüstung, wenn wir ins Bett gingen. Die Miercoledis waren nämlich zu allem Glück auch noch nachtaktiv.

      Auch in dieser Nacht trieben sie wieder ziemlich um – und ich bewunderte ihr Durchhaltevermögen. Um halb zwei wäre mir nicht danach, mit der ganzen Familie zu diskutieren. Mir war noch nicht einmal danach, dem leisen Atmen meines schlafenden Mannes zuzuhören. Stattdessen schlüpfte ich in Jeans und T-Shirt und beschloss, im Park des Hotels direkt am Seeufer noch etwas frische Luft zu schnappen.

      Kapitel 2: Lucas’ Vergangenheitsbewältigung

      Am Bodensee,

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